Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 241

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Nur das Internationale und vor allem das deutsche Proletariat versagt bis jetzt seinen speziellen Aufgaben gegenüber auf der ganzen Linie, versagt völlig, hartnäckig, unbelehrbar und unbeirrt durch alle Fußtritte, Peitschenhiebe und Skorpione der Geschichte.

Dies auszusprechen ist nicht darum nötig, um einem unfruchtbaren Pessimismus zu verfallen, sondern umgekehrt, um die ganze Größe des entschlossenen revolutionären Willens zu ermessen, die erforderlich ist, um alle versäumten Termine einzuholen. Mit halben Mitteln, schwächlichen Anläufen und bescheidenen Tugenden ist ein so unerhörter weltgeschichtlicher Bankrott nicht wettzumachen. Die rücksichtslose Konstatierung dieses Bankrotts ist auch noch darum nötig, um diejenigen Elemente der „Opposition”, die sich nur nach der Rückkehr in den warmen Stall der Parteizustände vor dem Kriege sehnen, endlich mit der Nase auf die einfache Frage zu stoßen:

Wie sehr muß sich das, was als sozialistische Partei und als sozialistische Internationale in den letzten Jahrzehnten existierte, von dem wirklichen Charakter und Beruf dieser Organisationen entfernt haben, um ein derartiges Versagen des ihrem Erziehungswerk und ihrer Führerschaft anvertrauten Proletariats zu ermöglichen?! Die russische Bourgeoisie ergreift vorerst entschlossen die Zügel der revolutionären Bewegung, was sie aber dazu vorantrieb, ist doch nur die stürmische Massenerhebung des Volkes. Ist es nun nicht einigermaßen auffällig, daß das russische arbeitende Volk im hundertjährigen Joch eines orientalischen Despotismus nicht gelernt hat, so geduldig zu hungern und sich unter die Säbeldiktatur zu ducken, wie es das deutsche Proletariat in der 50jährigen Schule der Sozialdemokratie gelernt zu haben scheint? – Erst wer den Mut und die Ehrlichkeit hat, die ganze Größe der gegenwärtigen Niederlage des Sozialismus zu bekennen, wird Kraft genug aufbringen, um die sozialistische Partei und die Internationale an Kopf und Gliedern umzugestalten, wie es ihre wirklichen historischen Aufgaben erfordern.

Spartacus, Nr. 4 vom April 1917.

In: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 295-299.

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