Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 220

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Arbeiterklasse, in ihm wurzelt auch ihre künftige Befreiung, der Sieg des Sozialismus. Zwei Nationalitäten gibt es in Wirklichkeit in jedem Lande: die der Ausbeuter und die der Ausgebeuteten. Der eigene deutsche Kapitalist ist dem deutschen Proletarier Feind, der fremde Proletarier hingegen, ob Franzose, Engländer oder Russe, ist sein Bruder. Rücksichtsloser Kampf gegen jenen, treue Solidarität mit diesem – das war unser Evangelium.

Und dieses Evangelium sollte im Frieden wie noch mehr im Kriege Geltung haben. Die deutsche Sozialdemokratie gelobte zusammen mit Genossen anderer Länder auf Internationalen Kongressen, den Militarismus und den Krieg bis zum letzten Blutstropf en zu bekämpfen. Für die „vaterländischen” Phrasen der Bourgeoisie hatten wir nur Hohn übrig. Tausendmal ist in unseren Versammlungen, in unserer Presse gesagt worden: Der Weltkrieg, der jetzt von den kapitalistischen Staaten vorbereitet wird, ist nichts als ein Raubzug imperialistischer Profitgier, blutige Balgerei um die Beute. Einem solchen Krieg stemmen wir uns entgegen, indem wir unsere ganze Macht in die Schanze schlagen unter dem alten Ruf: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

So sprach die Sozialdemokratie. Und so warb sie sich die Herzen und Hirne von Millionen Ausgebeuteter und Unterdrückter, die von ihr, der „Völkerbefreienden”, ihr Heil erwarteten.

Da kam der 4. August 1914, und alles stürzte zusammen. Oberste Führer und Vertreter der Arbeiterklasse schlugen ihre eigenen Lehren in den Wind, haben Klassenkampf und Internationale Solidarität verraten. Die Reichstagsfraktion schwenkte plötzlich zum Lager der Regierung und der bürgerlichen Parteien ab und wurde zur Handlangerin des Imperialismus und des Militarismus.

Liebknecht aber war unter den wenigen, die der alten Fahne treu geblieben sind. Schon im Dezember 1914 hatte er den Mannesmut, als einziger im ganzen Reichstag die Kriegskredite zu verweigern, und noch zweimal lehnte er sie ab, bis im Dezember 1915 sein Beispiel endlich bei mehreren wenn auch zögernde Nachahmung fand.[1]

Liebknecht war es auch, der als erster und die ganze Zeit über am schärfsten die ganze Komödie des Burgfriedens im Reichstag und Landtag vereitelte, den falschen Brüdern in dem imperialistischen Lager die Maske vom Gesicht riß und die Verbrechen des Imperialismus vor aller Welt aufdeckte. Aus den „Kleinen Anfragen”[2] verstand er eine Waffe des Klas-

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[1] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Die Lehre des 24. März. In: GW, Bd. 4, S. 181–186.

[2] Das parlamentarische Mittel der Kleinen Anfragen war im Mai 1912 unter dem Druck sozialdemokratischer und linksbürgerlicher Abgeordneter in die Geschäftsordnung des Reichstages aufgenommen worden. Damit bekamen die Abgeordneten eine Handhabe, um kurzfristig von der Regierung Auskünfte über wichtige politische Fragen zu erlangen, ohne den umständlichen Weg über eine Interpellation gehen zu müssen, zu der die Unterschrift von 30 Abgeordneten erforderlich war. Die Anfragen mußten schriftlich eingereicht werden; eine Besprechung der Antwort des Reichskanzlers oder seines Vertreters war nicht möglich. Die Kleinen Anfragen wurden während des Krieges von Karl Liebknecht zu einer wichtigen Form der revolutionären Ausnutzung des bürgerlichen Parlaments entwickelt.