Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 195

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dat abgeurteilt werden. Obwohl er als Fahnenträger des Internationalen Sozialismus am 1. Mai demonstrierte, um in allen Ländern die Volksmassen zum Kampfe gegen den Völkermord aufzurütteln, wird ihm „Kriegsverrat” am deutschen Heere aufgehalst.

Es ist klar, die Regierung mit ihren Spießgesellen plant einen Justizmord an Karl Liebknecht! Der verhaßte Vorkämpfer des Sozialismus, der unbeugsame Verteidiger der Arbeiterklasse soll von seinen Todfeinden gemeuchelt werden, er soll von der öffentlichen Bühne beseitigt werden, der Störenfried soll in der Versenkung verschwinden!

Und dieser saubere Plan wird mit allen raffinierten Mitteln vorbereitet. Die Militärjustiz, die sonst blitzschnell arbeitet wie eine Guillotine, ist diesmal so merkwürdig schleppend, daß die famose Anklage erst 5 Wochen nach der Festnahme Liebknechts fertig wurde. Weshalb? Weil man erst den Reichstag und den Landtag loswerden wollte![1] So hündisch sich die beiden Körperschaften benommen haben, so befürchteten die Schergen der Säbeldiktatur denn doch, daß diese ungeheuerliche Anklage und diese blutige Farce der Gerichtsverhandlung ein gewisses Echo auf der Tribüne des Reichstags oder Landtags.finden und das Volk dadurch aufgeregt werden könnte.

Noch besser! Am 9. Juni verbreitete das Sprachrohr der deutschen Regierung, das Wolffsche Telegraphenbüro, die Meldung, daß Liebknecht auf Grund des § 89[2] des Strafgesetzbuchs angeklagt sei.

Das war eine bewußte Lüge. Die Regierung belog in schamloser Weise die öffentliche Meinung! Der § 89 des Strafgesetzbuchs kennt als Mindeststrafe Festung. Die Anklage gegen Liebknecht lautet aber in Wirklichkeit auf § 57[3] des Militärstrafgesetzbuchs, und dieser Paragraph diktiert als Mindeststrafe 10 Jahre Zuchthaus

Nur im günstigsten Fall kann auf ein Viertel dieser Strafe, d. h. auf 21/2 Jahre Zuchthaus, erkannt werden. Liebknecht soll also auf jeden Fall zum Zuchthaus verurteilt werden, weil damit die Aberkennung aller Bür-

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[1] Durch kaiserliche Verordnungen wurden am 8. Juni 1916 der Reichstag bis zum 25. September und am 20. Juni der Landtag bis zum 14. November 1916 vertagt.

[2] Der Paragraph 89 des Reichsstrafgesetzbuches lautete: „Ein Deutscher, welcher vorsätzlich während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges einer feindlichen Macht Vorschub leistet oder der Kriegsmacht des Deutschen Reiches oder der Bundesgenossen desselben Nachteil zufügt, wird wegen Landesverrats mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Festungshaft von gleicher Dauer bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Festungshaft bis zu zehn Jahren ein. Neben der Festungshaft kann auf Verlust der bekleideten öffentlichen Ämter sowie der aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte erkannt werden.”

[3] Der Paragraph 57 des Militärstrafgesetzbuches lautete: „Wer im Felde einen Landesverrat begeht, wird wegen Kriegsverrats mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft.”