Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 192

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Klassenkampf – Landesverrat!

Budgetablehnung – Landesverrat!

Streiks zur Erhöhung der Hungerlöhne – Landesverrat!

Öffentliche Erörterung des Lebensmittelwuchers – Landesverrat!

Klageschrei der hungernden Frauen vor den Läden – Landesverrat!

Was tausendmal in sozialdemokratischen Zeitungen, in sozialdemokratischen Wählerversammlungen, in sozialdemokratischen Reichstagsreden gesagt worden, ist heute Landesverrat. Die gesamte 50jährige Tätigkeit der Sozialdemokratie, die gegen Krieg, Militarismus, Klassenherrschaft, Klassensolidarität [mit der Bourgeoisie], nationale Einigkeit, vaterländische Phrase gerichtet war, ist Landesverrat!

Die Payer, Liesching, Hubrich, die David, Landsberg, Scheidemann haben alle Staatsanwälte übertroffen, alle Polizeipräsidenten beschämt, den seligen Tessendorf[1] nachträglich zum Waisenknaben gemacht. Wehe, wenn diese Kerls das Bismarcksche Sozialistengesetz zu handhaben gehabt hätten! Sie hätten sämtliche sozialdemokratischen Abgeordneten und Redakteure ins Zuchthaus gesteckt, sie hätten unseren August Bebel, unseren alten Liebknecht an den Galgen gebracht. Die Scheidemann-Leute leisteten sich die Komödie, formell einen Antrag betr. die Immunität Liebknechts zu stellen, aber sie begründeten ihn damit, daß Liebknechts Kampf nicht gefährlich, daß das deutsche Volk in seinem Kadavergehorsam doch nicht zu erschüttern sei! Ja, in der Kommission des Reichstages sagte der „Sozialdemokrat” David mit Bezug auf Karl Liebknecht: Ein Hund, der laut belle, beiße nicht!

Auf all diese Infamie im Reichstag die richtige Antwort zu geben, nicht advokatorisch, nicht formalistisch, sondern sozialistisch, nicht debattieren, nicht argumentieren, sondern die verächtliche Gesellschaft als eine Rotte von Volksverrätern zu brandmarken, dazu fehlte eben – Liebknecht!

Die Antwort soll ihnen aber von den Massen des Proletariats gegeben werden, von den Massen des hungernden, geknechteten, als Kanonenfutter mißbrauchten Volkes. Und die „Hunde”-Worte des sozialdemokratischen Mehrheitsredners sollen dabei nicht vergessen werden.

Ein Hund ist, wer den Stiefel der Herrschenden leckt, der ihn jahrzehntelang mit Tritten bedachte.

Ein Hund ist, wer im Maulkorb des Belagerungszustandes fröhlich schweifwedelt und den Herren der Militärdiktatur, leise um Gnade winselnd, in die Augen blickt.

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[1] Hermann Tessendorf war von 1873 bis 1879 Erster Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht und Organisator der Sozialistenverfolgungen.