Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 191

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bot der Selbstachtung, seine Mitglieder vor den Regierungsgewalten zu schützen. Hier geschah das Unerhörte, das Beispiellose in der Geschichte aller Parlamente: Der Reichstag lieferte selbst eines seiner Mitglieder der Militärjustiz aus![1]

Wenige Tage darauf folgte der zweite Akt der Farce: Derselbe Reichstag lehnte es ab, seine Mitglieder vor solchen Brutalitäten und Vergewaltigungen zu schützen, wie sie Liebknecht gegenüber verübt worden sind, als er am 8. April die Mache mit der letzten deutschen Kriegsanleihe kritisch beleuchten wollte![2] Und die rabiatesten Schreier dieser parlamentarischen Selbstentleibung waren gerade die Freisinnigen[3]. Der Geist Eugen Richters[4], des Stiefelputzers der Reaktion aus der Zeit des Hungerzolltarifs[5], lebt in seinen würdigen Nachfahren. Unter dem Schrei „Landesverrat!” stürzen sich die Hubrich und Müller-Meiningen mit Fäusten auf jeden, der die Reichstagstribüne besteigt, um Kritik an der Regierung zu üben. Mit dem Schrei „Landesverrat!” liefern die Payer und Liesching[6] die Immunität der Volksvertretung dem Militärsäbel aus. Den Oertel und Heydebrand[7] bleibt nach diesem liberalen Geheul nichts mehr zu sagen übrig. Und die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion? Sie wies nicht mit einer Silbe dieses Gekrächz zurück. Die „Durchhaltepolitiker”, die Scheidemann und Genossen, halten ja selbst jeden, der sozialdemokratische Grundsätze hochhält und den Völkermord bekämpft, für einen Landesverräter.

Landesverrat! Landesverrat!

Maifeier ist Landesverrat!

Kritik an der Kriegsanleihe – Landesverrat!

Internationale Solidarität – Landesverrat!

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[1] Am 11. Mai 1916 waren Anträge der sozialdemokratischen Fraktion und der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft im Reichstag, das gegen Karl Liebknecht eingeleitete Verfahren auszusetzen und die verhängte Haft aufzuheben, mit 230 gegen 110 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen abgelehnt worden.

[2] Karl Liebknecht war am 8. April 1916 im Reichstag daran gehindert worden, den Charakter der deutschen Kriegsanleihe zu entlarven. Während seiner Rede hatte ihm der Abgeordnete der Fortschrittlichen Volkspartei Louis Hubrich das Manuskript und andere Papiere entrissen und zu Boden geworfen. Als Liebknecht weitersprechen wollte, wurde er von Heinrich Ernst Müller, Abgeordneter der gleichen Partei, gewaltsam daran gehindert.

[3] Gemeint ist die 1910 durch den Zusammenschluß der Freisinnigen Volkspartei, der Freisinnigen Vereinigung und der Deutschen Volkspartei entstandene Fortschrittliche Volkspartei.

[4] Eugen Richter, 1884 Mitbegründer und Führer der Deutschen Freisinnigen Partei und von 1893 bis 1906 Führer der Freisinnigen Volkspartei, beeinflußte entscheidend den antidemokratischen und antisozialistischen Kurs der Partei.

[5] Der am 14. Dezember 1902 im Reichstag beschlossene und 1906 in Kraft getretene Zolltarif sah stark erhöhte Tarife für alle eingeführten Waren, vor allem landwirtschaftliche Produkte, vor. Dadurch stiegen die Lebenshaltungskosten sprunghaft an.

[6] Friedrich von Payer und Theodor Liesching waren Reichstagsabgeordnete der Fortschrittlichen Volkspartei.

[7] Ernst Georg Oertel war seit 1894 Chefredakteur des Organs des Bundes der Landwirte „Deutsche Tageszeitung” und Abgeordneter der Deutschkonservativen Partei im Reichstag. – Ernst von Heydebrand und der Lasa war von 1914 bis 1918 Vorsitzender der Deutschkonservativen Partei.