Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 182

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tung in der Stunde der wichtigsten historischen Entscheidungen. Als sie sich endlich bei der vierzigsten Milliarde am 21. Dezember 1915 dazu aufrafften, im Reichstag gegen die Kredite zu stimmen, beeilten sie sich, ihrer Ablehnung eine begründende Erklärung zu geben, die im Hinweis auf die gesicherten Landesgrenzen Deutschlands eine Konzession an den grundsätzlichen Standpunkt der Mehrheit und einen Stoß gegen die Internationale Solidarität mit den französischen, belgischen, russischen und serbischen Genossen darstellt.[1] Sie haben in der berühmten „Baralong”-Affäre[2] durch den Mund des Genossen Ledebour der Noskeschen Vergeltungspolitik grundsätzlich zugestimmt und darin sogar die Kriegshetzer um Oertel[3] befriedigt. Sie haben, dem Gebot und der Auffassung der Mehrheit gehorsam, bis jetzt nicht ein einziges Mal von der unschätzbaren Waffe der Kleinen Anfragen[4] Gebrauch gemacht, um den imperialistischen Regierungsblock zu beunruhigen, die öffentliche Meinung aufzupeitschen und die Arbeitermassen zum Kampfe aufzustacheln. Ja, sie haben sogar die Fraktionsmehrheit unterstützt, als sie gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien Karl Liebknecht die Waffe der Kleinen Anfragen aus der Hand schlagen wollte. Sie haben endlich ruhig geduldet, als Karl Liebknecht und mit ihm Otto Rühle genau in derselben Weise aus der Fraktion hinausgedrängt worden waren wie jetzt Haase und Ledebour und Genossen; sie blieben trotzdem ruhig weiter in der offiziellen Fraktion, ohne sich mit Liebknecht und Rühle zu solidarisieren. Und noch in der letzten Stunde haben sie in den „Losen Blättern”[5] in der für den Kampf um den Frieden hochwichtigen Steuerfrage ein Programm aufgestellt, das mit demjenigen der Fraktionsmehrheit grundsätzlich übereinstimmt: statt der Regierung des Belagerungszustands und des Völkermordes jede Steuer grundsätzlich zu verweigern, wollen sie Arm in Arm mit der Fraktionsmehrheit direkte Steuern bewilligen!

Die 18 Genossen hatten also während bald zwei Jahren und bis zuletzt im Schoße der Fraktion wahrlich im eigentlichen Sinne nicht eine Opposition, sondern bloß den Schatten einer Opposition gebildet! Und was zeigt sich heute? Es zeigt sich, daß im Schoße der sogenannten sozialdemokratischen Fraktion nicht einmal für die schüchternste, zaghafteste, blas-

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[1] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Die Politik der sozialdemokratischen Minderheit. In: GW, Bd. 4, S. 172–175.

[2] Der britische Hilfskreuzer „Baralong” hatte am 19. August 1915 ein deutsches U-Boot versenkt und die schiffbrüchige Besatzung getötet.

[3] Ernst Georg Oertel war seit 1894 Chefredakteur des Organs des Bundes der Landwirte „Deutsche Tageszeitung” und Abgeordneter der Deutschkonservativen Partei im Reichstag.

[4] Das parlamentarische Mittel der Kleinen Anfragen war im Mai 1912 unter dem Druck sozialdemokratischer und linksbürgerlicher Abgeordneter in die Geschäftsordnung des Reichstages aufgenommen worden. Damit bekamen die Abgeordneten eine Handhabe, um kurzfristig von der Regierung Auskünfte über wichtige politische Fragen zu erlangen, ohne den umständlichen Weg über eine Interpellation gehen zu müssen, zu der die Unterschrift von 30 Abgeordneten erforderlich war. Die Anfragen mußten schriftlich eingereicht werden; eine Besprechung der Antwort des Reichskanzlers oder seines Vertreters war nicht möglich. Die Kleinen Anfragen wurden während des Krieges von Karl Liebknecht zu einer wichtigen Form der revolutionären Ausnutzung des bürgerlichen Parlaments entwickelt.

[5] Die „Losen Blätter” wurden von der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft herausgegeben und erschienen in zwangloser Reihenfolge ab 18. März 1916 illegal in Berlin.