Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 17

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an der Partei gekennzeichnet ist. Aber eine Fraktion kann, ohne formellen Übertritt zur Nationalliberalen Partei zu beschließen, folgenschwere Beschlüsse für die gesamte Partei fassen, die sachlich auf die Politik der Partei Drehscheibe’[1] hinauslaufen, die dem Programm, der Taktik, der Tradition, den Parteitagsbeschlüssen, sämtlichen Broschüren, Zeitungen und Agitationsreden vergangener fünf Jahrzehnte der Parteiexistenz direkt ins Gesicht schlagen. Solche Beschlüsse bilden alsdann zweifellos den denkbar flagrantesten Disziplinbruch gegenüber der Gesamtpartei, wie sie bisher war.

Wie die Partei heute über die Reichstagssitzungen des 4. August und des 2. Dezember denkt, ist bis jetzt und bleibt wahrscheinlich noch eine geraume Zeit unbekannt. Nur die Auffassung von 110 Reichstagsabgeordneten und von drei bis vier Dutzend Redakteuren hat sich bis jetzt öffentlich kundgetan. In einer demokratischen Partei wie der unseren ist maßgebend die Ansicht und der Wille nicht einer Handvoll Literaten, Parteibeamter oder Parlamentarier, sondern der großen Mehrheit der Proletarier, der Millionen, die nach reiflicher Prüfung, nach offener, eingehender Diskussion ihre Entschlüsse fassen. Heutzutage, unter dem Belagerungszustand, ohne Preßfreiheit, ohne Versammlungsrecht, ohne freies, ungehindertes Parteileben und öffentliche Meinung, ist es der großen Masse der Parteigenossen völlig unmöglich, ihre Auffassung zum Ausdruck zu bringen. Und die Vertrauensvoten, die sich einzelne Abgeordnete in ihren Wahlkreisen geholt haben mögen, besitzen unter solchen politischen Umständen im ganzen Lande sehr geringen Wert. So bleibt es Tatsache, daß seit dem Ausbruch des Krieges unter dem Schutze des Belagerungszustandes fortlaufend schwerste Disziplinbrüche begangen werden, die die Sozialdemokratie ihrer bisherigen Richtung, ihrer Physiognomie, ihrer Ziele zu berauben geeignet sind. Disziplinbrüche, die darin bestehen, daß einzelne Organe der Partei, anstatt dem Gesamtwillen, d. h. dem Parteiprogramm zu dienen, auf eigene Faust diesen Gesamtwillen beugen.

Und erst wenn die eiserne Disziplin des Belagerungszustands beseitigt ist, wird die große Masse der Parteigenossen ihre Disziplin wieder zur Geltung bringen und für die begangenen Disziplinbrüche Rechenschaft fordern können.

Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin),
Nr. 125 vom 4. Dezember 1914.

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