Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 16

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Partei klaren und unzweideutigen Aufschluß, darüber geben Parteitagsbeschlüsse sowie Beschlüsse der Internationalen Kongresse Bescheid, an denen die Partei teilgenommen hat.

Darin und nur darin liegt die eigentliche Basis, die innere Berechtigung und der historische Sinn der sozialdemokratischen Disziplin. Sie ist das geschichtliche Werkzeug und das unentbehrliche Hilfsmittel, um den im Programm der Arbeiterpartei, in Parteitagsbeschlüssen und Internationalen Kongreßbeschlüssen aufgesteckten Willen fortlaufend zur politischen Tat zu schmieden.

Die Arbeiterbewegung hat nun verschiedene Organe, die ihr dienen, und in jedem dieser Organe muß jeder einzelne sich der Mehrheit fügen. Aber die Disziplin dieser Organe, die Disziplin der parlamentarischen Fraktion beispielsweise, des Parteivorstands, der Jugendausschüsse, der Bildungsausschüsse usw. usw„ hat nur den Zweck, die Parteidisziplin durchzuführen, d. h. das Parteiprogramm und die Beschlüsse der Gesamtpartei zur Anwendung zu bringen. Stellen wir uns für einen Moment vor, die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hätte plötzlich mit großer Mehrheit oder nahezu einstimmig beschlossen, sich der Nationalliberalen Partei anzuschließen; wäre dann ihr Anspruch an die Parteidisziplin gegenüber ihren Mitgliedern irgendwie berechtigt? Jeder Genosse wird ohne weiteres mit einem Nein antworten. Eine sozialdemokratische Fraktion, die etwa plötzlich beschließen würde, sich der Nationalliberalen Partei anzuschließen, wäre im Gegenteil selbst diejenige, die die Parteidisziplin in schnödester Weise gebrochen hätte und deswegen vor das Gericht der Gesamtpartei gehörte. Sie würde durch diesen Beschluß selbst jedes ihrer Mitglieder des Gehorsams entbinden, so wie selbst im heutigen Heer ein Soldat von der Pflicht des Gehorsams entbunden ist, wenn er zu gesetzwidrigen Handlungen aufgefordert wird. Was für jeden Staatsbürger und Soldaten der Zwang des Gesetzes, das ist für jeden Sozialdemokraten die bindende Kraft des Parteiprogramms. Und keine Gruppe von hundert Genossen, möge sie eine Ortsversammlung, ein Konsumverein oder eine parlamentarische Fraktion sein, hat in einer demokratischen Partei wie der Sozialdemokratie die Befugnis, den einzelnen zum Verrat an der Partei zu zwingen. Die Disziplin der Gesamtpartei, d. h. ihrem Programm gegenüber, geht vor alle Korporationsdisziplin und kann allein dieser letzteren Berechtigung verschaffen, wie sie auch ihre natürliche Schranke bildet.

In unserem Beispiel liegen die Dinge klar und unzweideutig, weil wir einen Beschluß konstruiert haben, der schon äußerlich als formeller Verrat

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