Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 161

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noch Fortschritt, denn sie werden mit einem jähen wirtschaftlichen und kulturellen Ruin der Völker erkauft, die den ganzen Jammer und alle Schrecken zweier Zeitalter, der traditionellen naturalwirtschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und der modernsten raffiniertesten . kapitalistischen Ausbeutung, auf einmal auszukosten haben. Nur als materielle Vorbedingungen für die Aufhebung der Kapitalsherrschaft, für die Abschaffung der Klassengesellschaft überhaupt trugen die Werke des kapitalistischen Siegeszuges in der Welt den Stempel des Fortschritts im weiteren geschichtlichen Sinne. In diesem Sinne arbeitete der Imperialismus in letzter Linie für uns.

Der heutige Weltkrieg ist eine Wende in seiner Laufbahn. Zum ersten Male sind jetzt die reißenden Bestien, die vom kapitalistischen Europa auf alle anderen Weltteile losgelassen waren, mit einem Satz mitten in Europa eingebrochen. Ein Schrei des Entsetzens ging durch die Welt, als Belgien, das kostbare kleine Juwel der europäischen Kultur, als die ehrwürdigsten Kulturdenkmäler in Nordfrankreich unter dem Anprall einer blinden Vernichtungskraft klirrend in Scherben fielen. Die „Kulturwelt”, welche gelassen zugesehen hatte, als derselbe Imperialismus Zehntausende Hereros dem grausigsten Untergang weihte und die Kalahariwüste mit dem Wahnsinnsschrei Verdurstender, mit dem Röcheln Sterbender füllte[1], als in Putumayo binnen zehn Jahren vierzigtausend Menschen von einer Bande europäischer Industrieritter zu Tode gemartert, der Rest eines Volkes zu Krüppeln geschlagen wurde, als in China eine uralte Kultur unter Brand und Mord von der europäischen Soldateska allen Greueln der Vernichtung und der Anarchie preisgegeben ward, als Persien ohnmächtig in der immer enger zugezogenen Schlinge der fremden Gewaltherrschaft erstickte, als in Tripolis die Araber mit Feuer und Schwert unter das Joch des Kapitals gebeugt, ihre Kultur, ihre Wohnstätten dem Erdboden gleichgemacht wurden – diese „Kulturwelt” ist erst heute gewahr worden, daß der Biß der imperialistischen Bestien todbringend, daß ihr Odem Ruchlosigkeit ist. Sie hat es erst bemerkt, als die Bestien ihre reißenden Pranken in den eigenen Mutterschoß, in die bürgerliche Kultur Europas krallten. Und auch diese Erkenntnis ringt sich in der verzerrten Form der bürgerlichen Heuchelei durch, worin jedes Volk die Infamie nur in der nationalen Uniform des anderen erkennt. „Die deutschen Barbaren!”

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[1] Im Jahre 1904 hatte sich in Südwestafrika das Volk der Hereros gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Die deutschen Kolonialtruppen hatten bei ihrem Unterdrückungsfeldzug auf Befehl des Generals Lothar von Trotha die Eingeborenen in die Wüste getrieben, von den Wasservorkommen abgeschnitten und damit einem grausamen Tod ausgeliefert.