Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 155

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noch etwas größere ökonomische Ruin der besiegten Gegenseite, Frankreichs und Englands, bieten, d. h. derjenigen Länder, mit denen Deutschland durch wirtschaftliche Beziehungen am engsten verknüpft, von deren Wohlstand sein eigenes Wiederaufblühen am meisten abhängig ist. Das ist der Rahmen, in dem es sich für das deutsche Volk nach dem Kriege – wohlgemerkt nach einem „siegreichen” Kriege – darum handeln würde, die auf Vorschuß von der patriotischen Volksvertretung „bewilligten” Kriegskosten nachträglich in Wirklichkeit zu decken, d. h. eine unermeßliche Last von Steuern zusammen mit der erstarkten militärischen Reaktion als die einzige bleibende, greifbare Frucht des „Sieges” auf seine Schultern zu nehmen.

Sucht man sich nun die schlimmsten Ergebnisse einer Niederlage vorzustellen, so sind sie – ausgenommen die imperialistischen Annexionen – Zug um Zug demselben Bilde ähnlich, das sich als unabweisbare Konsequenz aus dem Siege ergab: Die Wirkungen der Kriegführung selbst sind heute so tiefgreifender und weittragender Natur, daß an ihnen der militärische Ausgang nur wenig zu ändern imstande ist.

Doch nehmen wir für einen Augenblick an, der siegreiche Staat verstände dennoch, den größeren Ruin von sich ab- und dem besiegten Gegner aufzuwälzen, dessen wirtschaftliche Entwicklung durch allerlei Hemmnisse einzuschnüren. Kann die deutsche Arbeiterklasse in ihrem gewerkschaftlichen Kampf nach dem Kriege erfolgreich vorwärtskommen, wenn die gewerkschaftliche Aktion der französischen, englischen, belgischen, italienischen Arbeiter durch wirtschaftlichen Rückgang unterbunden wird? Bis 1870 schritt noch die Arbeiterbewegung in jedem Lande für sich, ja, in einzelnen Städten fielen ihre Entscheidungen. Es war Paris, auf dessen Pflaster die Schlachten des Proletariats geschlagen und entschieden wurden. Die heutige Arbeiterbewegung, ihr mühsamer wirtschaftlicher Tageskampf, ihre Massenorganisation sind auf Zusammenwirkung aller Länder der kapitalistischen Produktion basiert. Gilt der Satz, daß nur auf dem Boden eines gesunden, kräftig pulsierenden wirtschaftlichen Lebens die Sache der Arbeiter gedeihen kann, dann gilt er nicht bloß für Deutschland, sondern auch für Frankreich, England, Belgien, Rußland, Italien. Und stagniert die Arbeiterbewegung in allen kapitalistischen Staaten Europas, bestehen dort niedrige Löhne, schwache Gewerkschaften, geringe Widerstandskraft der Ausgebeuteten, dann kann die Gewerkschaftsbewegung unmöglich in Deutschland blühen. Von diesem Standpunkt aus ist es für die Lage des Proletariats in seinem wirtschaftlichen Kampfe in letzter Rechnung genau derselbe Verlust, wenn der deutsche Kapitalismus

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