Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 148

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eigener Weltanschauung völlig ausgeschaltet, hat das Land kritiklos dem furchtbaren Verhängnis des imperialistischen Krieges nach außen und der Säbeldiktatur im Innern preisgegeben und obendrein die Verantwortung für den Krieg auf sich geladen. Die Erklärung der Reichstagsfraktion sagt, nur die Mittel zur Verteidigung des Landes hätte sie bewilligt, die Verantwortung hingegen für den Krieg abgelehnt. Das gerade Gegenteil ist wahr. Die Mittel zu dieser „Verteidigung”, d. h. zur imperialistischen Menschenschlächterei durch die Heere der Militärmonarchie, brauchte die Sozialdemokratie gar nicht zu bewilligen, denn ihre Anwendung hing nicht im geringsten von der Bewilligung der Sozialdemokratie ab, dieser als Minderheit stand die kompakte Dreiviertelmajorität des bürgerlichen Reichstags gegenüber. Durch ihre freiwillige Bewilligung hat die sozialdemokratische Fraktion nur eines erreicht: die Demonstration der Einigkeit des ganzen Volkes im Kriege, die Proklamierung des Burgfriedens, d. h. die Einstellung des Klassenkampfes, die Auslöschung der oppositionellen Politik der Sozialdemokratie im Kriege, also die moralische Mitverantwortung für den Krieg. Durch ihre freiwillige Bewilligung der Mittel hat sie dieser Kriegführung den Stempel der demokratischen Vaterlandsverteidigung aufgedrückt, die Irreführung der Massen über die wahren Bedingungen und Aufgaben der Vaterlandsverteidigung unterstützt und besiegelt.

So ist das schwere Dilemma zwischen Vaterlandsinteressen und Internationaler Solidarität des Proletariats, der tragische Konflikt, der unsere Parlamentarier nur „mit schwerem Herzen” auf die Seite des imperialistischen Krieges fallen ließ, reine Einbildung, bürgerlich-nationalistische Fiktion. Zwischen den Landesinteressen und dem Klasseninteresse der proletarischen Internationale besteht vielmehr im Krieg wie im Frieden vollkommene Harmonie: Beide erfordern die energischste Entfaltung des Klassenkampfes und die nachdrücklichste Vertretung des sozialdemokratischen Programms.

Was sollte aber unsere Partei tun, um ihrer Opposition gegen den Krieg, um jenen Forderungen Nachdruck zu verleihen? Sollte sie den Massenstreik proklamieren? Oder zur Dienstverweigerung der Soldaten auffordern? So wird gewöhnlich die Frage gestellt. Eine Bejahung solcher Fragen wäre genauso lächerlich, wie wenn die Partei etwa beschließen wollte: „Wenn der Krieg ausbricht, dann machen wir Revolution.” Revolutionen werden nicht „gemacht”, und große Volksbewegungen werden nicht mit technischen Rezepten aus der Tasche der Parteiinstanzen inszeniert. Kleine Verschwörerzirkel können für einen bestimmten Tag und Stunde einen

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