Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 144

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demokratie in dem heutigen Kriege? Sollte sie etwa erklären: Da dieser Krieg ein imperialistischer, da dieser Staat nicht dem sozialistischen Selbstbestimmungsrecht, nicht dem nationalen Ideal[1] entspricht, so ist er uns gleichgültig, und wir geben ihn dem Feinde preis? Das passive Gehen- und Geschehenlassen kann niemals die Richtschnur für das Verhalten einer revolutionären Partei wie der Sozialdemokratie abgeben. Weder sich zur Verteidigung des bestehenden’ Klassenstaates unter das Kommando der herrschenden Klassen stellen noch schweigend auf die Seite gehen, um abzuwarten, bis der Sturm vorbei ist, sondern selbständige Klassenpolitik einschlagen, die in jeder großen Krise der bürgerlichen Gesellschaft die herrschenden Klassen vorwärtspeitscht, die Krise über sich selbst hinaustreibt, das ist die Rolle der Sozialdemokratie als der Vorhut des kämpfenden Proletariats. Statt also dem imperialistischen Kriege den Mantel der nationalen Verteidigung fälschlich umzuhängen, galt es gerade mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und mit der nationalen Verteidigung Ernst zu machen, sie als revolutionären Hebel gegen den imperialistischen Krieg zu wenden. Das elementarste Erfordernis der nationalen Verteidigung ist, daß die Nation die Verteidigung in die eigene Hand nimmt. Der erste Schritt dazu ist die Miliz, das heißt nicht bloß sofortige Bewaffnung der gesamten erwachsenen männlichen Bevölkerung, sondern vor allem auch die Entscheidung des Volkes über Krieg und Frieden, das heißt ferner die sofortige Beseitigung aller politischer Entrechtung, da die größte politische Freiheit als Grundlage der Volksverteidigung notwendig ist. Diese wirklichen Maßnahmen der nationalen Verteidigung zu proklamieren, ihre Verwirklichung zu fordern, das war die erste Aufgabe der Sozialdemokratie. Vierzig Jahre lang haben wir den herrschenden Klassen wie den Volksmassen bewiesen, daß nur die Miliz imstande sei, das Vaterland wirklich zu verteidigen, es unbesiegbar zu machen. Und nun, wo es zu der ersten großen Probe kam, haben wir die Verteidigung des Landes als etwas ganz Selbstverständliches in die Hände des stehenden Heeres, des Kanonenfutters unter der Fuchtel der herrschenden Klassen überwiesen. Unsere Parlamentarier haben offenbar gar nicht bemerkt, daß sie, indem sie dieses Kanonenfutter „mit heißen Wünschen” als wirkliche Wehr des Vaterlandes ins Feld begleiteten, indem sie ohne weiteres zugaben, das königlich-preußische stehende Heer sei in der Stunde der größten Not des Landes sein wirklicher Retter, daß sie dabei den Angelpunkt unseres politischen Programms, die Miliz, glatt preisgaben, die praktische Bedeutung unserer vierzigjährigen Milizagitation in Dunst auflösten, zur

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[1] In der Quelle: idealen National.