Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 140

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Staaten eine allgemeine Verschiebung des Besitzstandes, der Machtverhältnisse, und zwar in der ausdrücklichen Richtung zur Expansion, herbeiführt. Endlich die Tatsache selbst, daß heute alle kapitalistischen Staaten Kolonialbesitzungen haben, die im Kriege, mag er auch als „nationaler Verteidigungskrieg” beginnen, schon aus rein militärischen Gesichtspunkten mit in den Krieg gezogen werden, indem jeder kriegführende Staat die Kolonien des Gegners zu okkupieren oder mindestens zum Aufruhr zu bringen sucht – siehe die Beschlagnahme der deutschen Kolonien durch England und die Versuche, den „Heiligen Krieg” in den englischen und französischen Kolonien zu entfachen –; diese Tatsache verwandelt gleichfalls automatisch jeden heutigen Krieg in einen imperialistischen Weltbrand.

So ist der Begriff selbst jenes bescheidenen tugendhaften vaterländischen Verteidigungskriegs, der unseren Parlamentariern und Redakteuren heute vorschwebt, reine Fiktion, die jede geschichtliche Erfassung des Ganzen und seiner Weltzusammenhänge vermissen läßt. Über den Charakter des Krieges entscheiden eben nicht die feierlichen Erklärungen und nicht einmal die ehrlichen Absichten der sogenannten leitenden Politiker, sondern die jeweilige historische Beschaffenheit der Gesellschaft und ihrer militärischen Organisation.

Das Schema des reinen „nationalen Verteidigungskriegs” könnte auf den ersten Blick vielleicht auf ein Land wie die Schweiz passen. Aber die Schweiz ist ausgerechnet kein Nationalstaat und dazu kein Typus für die heutigen Staaten. Gerade ihr „neutrales” Dasein und ihr Luxus an Miliz ist selbst nur negative Frucht des latenten Kriegszustandes der sie umgebenden großen Militärstaaten und auch nur so lange haltbar, als sie sich mit jenem Zustand vertragen kann. Wie eine solche Neutralität im Weltkriege im Nu vom Kommißstiefel des Imperialismus zertreten wird, zeigt das Schicksal Belgiens. Hier kommen wir speziell zur Situation der Kleinstaaten. Geradezu eine klassische Probe auf das Exempel des „nationalen Krieges” bildet heute Serbien. Wenn irgendein Staat nach allen äußeren formalen Merkmalen das Recht der nationalen Verteidigung auf seiner Seite hat, so ist es Serbien. Durch Österreichs Annexionen um die nationale Einheit gebracht, von Österreich in seiner nationalen Existenz bedroht, durch Österreich zum Kriege gezwungen, kämpft Serbien allem menschlichen Ermessen nach den echten Verteidigungskrieg um Existenz, Freiheit und Kultur seiner Nation. Hat die deutsche sozialdemokratische Fraktion mit ihrer Stellungnahme recht, dann sind die serbischen Sozialdemokraten, die im Belgrader Parlament gegen den Krieg protestierten

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