Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 127

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schwerste gefährdet. In den führenden Kreisen der Sozialdemokratie wird viel auf die Aussicht gebaut, daß nach dem Kriege eine bedeutende Erweiterung demokratischer Freiheiten der Arbeiterklasse, daß bürgerliche Gleichberechtigung als Lohn für ihr vaterländisches Verhalten im Kriege verliehen werden würde. Aber noch nie in der Geschichte sind beherrschten Klassen politische Rechte als Trinkgeld für ihr den herrschenden Klassen genehmes Verhalten von diesen verliehen worden. Im Gegenteil ist die Geschichte mit Beispielen des schnöden Wortbruchs der Herrschenden selbst in solchen Fällen gesät, wo feierliche Versprechungen vor dem Kriege gemacht worden waren. In Wirklichkeit hat die Sozialdemokratie durch ihr Verhalten nicht die künftige Erweiterung der politischen Freiheiten in Deutschland gesichert, sondern die vor dem Kriege besessenen erschüttert. Die Art und Weise, wie in Deutschland die Aufhebung der Preßfreiheit, der Versammlungsfreiheit, des öffentlichen Lebens, wie der Belagerungszustand nun lange Monate ohne jeden Kampf, ja mit teilweisem Beifall gerade von sozialdemokratischer Seite[1]* ertragen wird, ist beispiellos in der Geschichte der modernen Gesellschaft. In England herrscht völlige Preßfreiheit, in Frankreich ist die Presse nicht entfernt derart geknebelt wie in Deutschland. In keinem Lande ist die öffentliche Meinung derart völlig verschwunden, einfach durch die offiziöse „Meinung”, durch den Befehl der Regierung ersetzt wie in Deutschland. Auch in Rußland kennt man bloß den verheerenden Rotstift des Zensors, der die oppositionelle Meinung vertilgt, gänzlich unbekannt ist dagegen die Einrichtung, daß die oppositionelle Presse von der Regierung gelieferte fertige Artikel abdrucken, daß sie in eigenen Artikeln bestimmte Auffassungen vertreten muß, die ihr von Regierungsbehörden in „vertraulichen Besprechungen mit der Presse” diktiert und anbefohlen werden. Auch in Deutschland selbst war während des Krieges von 1870 nichts dem heutigen Zustand Ähnliches erlebt worden. Die Presse erfreute sich unbeschränkter Freiheit und begleitete die Kriegsereignisse zum lebhaften Verdruß Bismarcks mit teilweise scharfen Kritiken sowie mit einem munteren Kampf der Meinungen, namentlich auch über Kriegsziele, Annexionsfragen, Verfassungsfragen usw. Als aber Johann Jacoby verhaftet wurde[2], da ging ein

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[1] Die Chemnitzer „Volksstimme” schrieb am 21. Okt. 1914: „Jedenfalls ist die Militärzensur in Deutschland im ganzen genommen anständiger und vernünftiger als in Frankreich oder England. Das Geschrei über die Zensur, hinter dem sich vielfach der Mangel an fester Stellungnahme zum Kriegsproblem verbirgt, hilft nur Deutschlands Feinden die Lüge verbreiten, als sei Deutschland ein zweites Rußland. Wer ernsthaft glaubt, unter der jetzigen Militärzensur nicht nach seiner Gesinnung schreiben zu können, der lege die Feder aus der Hand und schweige.” – [Fußnote im Original]

[2] Johann Jacoby, ein Arzt und Publizist, gehörte von 1830 bis 1870 zu den führenden bürgerlich-demokratischen Politikern. Wegen seines Protestes gegen die Annexion Elsaß-Lothringen, wurde er 1870 eingekerkert. 1872 schloß er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an.