Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 125

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geoisie überhaupt verwechselten; in der Einbildung republikanischer Biedermänner, welche die Existenz selbst der Klassen leugneten oder höchstens als Folge der konstitutionellen Monarchie zugaben; in den heuchlerischen Phrasen der bisher von der Herrschaft ausgeschlossenen bürgerlichen Fraktionen war die Herrschaft der Bourgeoisie abgeschafft mit der Einführung der Republik. Alle Royalisten verwandelten sich damals in Republikaner und alle Millionäre von Paris in Arbeiter. Die Phrase, welche dieser eingebildeten Aufhebung der Klassenverhältnisse entsprach, war die fraternité, die allgemeine Verbrüderung und Brüderschaft. Diese gemütliche Abstraktion von den Klassengegensätzen, diese sentimentale Ausgleichung der sich widersprechenden Klasseninteressen, diese schwärmerische Erhebung über den Klassenkampf, die fraternité, sie war das eigentliche Stichwort der Februarrevolution … Das Pariser Proletariat schwelgte in diesem großmütigen Fraternitätsrausche … Das Pariser Proletariat, das in der Republik seine eigene Schöpfung erblickte, akklamierte natürlich jedem Akt der provisorischen Regierung, der sie leichter in der bürgerlichen Gesellschaft Platz greifen ließ. Von Caussidière ließ es sich willig zu Polizeidiensten verwenden, um das Eigentum in Paris zu beschützen, wie es die Lohnzwiste zwischen Arbeitern und Meistern von Louis Blanc schlichten ließ. Es war sein Point d’honneur, vor den Augen von Europa die bürgerliche Ehre der Republik unangetastet zu erhalten.”[1]

Im Februar 1848 hatte also das Pariser Proletariat in naiver Illusion auch den Klassenkampf abgestellt, aber, wohlgemerkt, nachdem es durch seine revolutionäre Aktion die Julimonarchie zerschmettert und die Republik erzwungen hatte. Der 4. August 1914, das war die auf den Kopf gestellte Februarrevolution: die Aufhebung der Klassengegensätze nicht unter der Republik, sondern unter der Militärmonarchie, nicht nach einem Siege des Volkes über die Reaktion, sondern nach einem Siege der Reaktion über das Volk, nicht bei der Proklamierung der Liberté, Egalité, Fraternité, sondern bei der Proklamierung des Belagerungszustandes, Erdrosselung der Preßfreiheit und Aufhebung der Verfassung! Die Regierung proklamierte feierlich den Burgfrieden und nahm den Handschlag aller Parteien darauf, ihn ehrlich einzuhalten. Aber als erfahrener Politiker traute sie dem Versprechen nicht recht und sicherte sich den „Burgfrieden” – durch handgreifliche Mittel der Militärdiktatur. Die sozialdemokratische Fraktion akzeptierte auch das ohne jeden Protest und Widerstand. Nicht mit einer Silbe verwahrte sich die Reichstagserklärung der Fraktion

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[1] Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 7, S. 21 f.