Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 88

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Kapitals und der Internationalen Diplomatie in der Türkei, daß bei alledem eine wirkliche Regeneration des türkischen Staates ein völlig aussichtsloses Beginnen ist und alle Versuche, den morschen, zerfallenden Haufen von Trümmern zusammenzuhalten, auf ein reaktionäres Unternehmen hinauslaufen, war für jedermann und namentlich für die deutsche Sozialdemokratie seit langem ganz klar. Schon aus Anlaß des großen kretischen Aufstands im Jahre 1896[1] hatte in der deutschen Parteipresse eine gründliche Erörterung des Orientproblems stattgefunden, welche zur Revision des einst von Marx vertretenen Standpunkts aus der Zeit des Krimkrieges[2] und zur definitiven Verwerfung der „Integrität der Türkei” als eines Erbstücks der europäischen Reaktion führte. Und nirgends war das jungtürkische Regime in seiner inneren sozialen Unfruchtbarkeit und seinem konterrevolutionären Charakter so rasch und genau erkannt wie in der deutschen sozialdemokratischen Presse. Es war auch eine echt preußische Idee, daß es lediglich strategischer Eisenbahnen zur raschen Mobilisation und schneidiger Militärinstrukteure bedürfe, um eine so morsche Baracke wie den türkischen Staat lebensfähig zu machen.[3]

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[1] 1896 hatte sich die griechische Bevölkerung der Insel Kreta zum bewaffneten Kampf gegen die Türkenherrschaft erhoben. Im Februar 1897 proklamierten die Aufständischen, die durch griechische Truppen unterstützt wurden, den Anschluß an Griechenland. Die Großmächte griffen ein und erklärten Kreta für autonom „unter Schirmherrschaft Europas” stehend, und englische, französische, italienische und russische Truppen besetzten die Insel.

[2] Im Krimkrieg 1853 bis 1856 hatte Rußland gegen die Türkei, die mit England, Frankreich und Sardinien verbündet war, einen Kampf um die Vorherrschaft und den Einfluß im Nahen Osten geführt. Rußland hatte eine schwere Niederlage erlitten und seinen vorherrschenden Einfluß auf die Türkei verloren.

[3] Am 3. Dezember 1912, nach dem ersten Balkankriege, führte der sozialdemokratische Fraktionsredner David im Reichstag aus: „Gestern wurde hier bemerkt, die deutsche Orientpolitik sei an dem Zusammenbruch der Türkei nicht schuld, die deutsche Orientpolitik sei eine gute gewesen. Der Herr Reichskanzler meinte, wir hätten der Türkei manchen guten Dienst geleistet, und Herr Bassermann sagte, wir hätten die Türkei veranlaßt, vernünftige Reformen durchzuführen. Von dem letzteren ist mir nun gar nichts bekannt (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.), und auch hinter die guten Dienste möchte ich ein Fragezeichen setzen. Warum ist die Türkei zusammengebrochen? Was dort zusammengebrochen ist, das war ein Junkerregiment, ähnlich dem, was wir in Ostelbien haben. (,Sehr richtig!’ bei den Sozialdemokraten. – Lachen rechts.) Der Zusammenbruch der Türkei ist eine Parallelerscheinung zu dem Zusammenbruch des mandschurischen Junkerregiments in China. Mit den Junkerregimentern scheint es allmählich überall zu Ende zu gehen (Zurufe von den Sozialdemokraten: ,Hoffentlich!’); sie entsprechen nicht mehr den modernen Bedürfnissen.

Ich sagte, die Verhältnisse in der Türkei glichen bis zu einem gewissen Grade denen in Ostelbien. Die Türken sind eine regierende Erobererkaste, nur eine kleine Minderheit. Neben ihnen gibt es noch Nichttürken, die die mohammedanische Religion angenommen haben; aber die eigentlichen Stammtücken sind nur eine kleine Minderheit, eine Kriegerkaste, eine Kaste, die sämtliche leitenden Stellen eingenommen bat, wie in Preußen, in der Verwaltung, in der Diplomatie, Im Heere; eine Kaste, deren wirtschaftliche Stellung sich stützte auf einen großen Grundbesitz, auf die Verfügung über hörige Bauern, gerade wie in Ostelbien; eine Kaste, die diesen Hintersassen gegenüber, die fremden Stammes und fremder Religion waren, den bulgarischen, den serbischen Bauern gegenüber die gleiche rücksichtslose Grundherrenpolitik verfolgt hat, wie in Ostelbien unsere Spahis. (Heiterkeit.) Solange die Türkei Naturalwirtschaft hatte, ging das noch; denn da ist ein solches Grundherrenregiment noch einigermaßen erträglich, weil der Grundherr noch nicht so auf das Ausquetschen seiner Hintersassen drängt; wenn er sonst gut zu essen und zu leben hat, ist er zufrieden. In dem Moment aber, wo die Türkei durch die Berührung mit Europa zu einer modernen Geldwirtschaft kam, wurde der Druck der türkischen Junker auf ihre Bauern immer unerträglicher. Es kam zu einer Ausquetschung dieses Bauernstandes, und ein großer Teil der Bauern ist zu Bettlern herabgedrückt worden; viele sind zu Räubern geworden. Das sind die Komitatschis! (Lachen rechts.) Die türkischen Junker haben nicht nur einen Krieg geführt gegen einen auswärtigen Feind, nein, unterhalb dieses Krieges gegen den auswärtigen Feind hat sich in der Türkei eine Bauernrevolution vollzogen. Das war es, was den Türken das Rückgrat gebrochen hat, und das war der Zusammenbruch ihres Junkersystems!

Wenn man nun sagt, die deutsche Regierung habe da gute Dienste geleistet – nun, die besten Dienste, die sie der Türkei und auch dem jungtürkischen System hätte leisten können, hat sie nicht geleistet. Sie hätte ihnen raten sollen, die Reformen, zu der die Türkei durch das Berliner Protokoll verpflichtet war, durchzuführen, ihre Bauern wirklich frei zu machen, wie Bulgarien und Serbien es getan haben. Aber wie konnte das die preußisch-deutsche Junkerdiplomatie! ...

Die Instruktionen, die Herr v. Marschall von Berlin empfing, konnten jedenfalls nicht darauf gehen, den Jungtürken wirklich gute Dienste zu leisten. Was sie ihnen gebracht haben – ich will von den militärischen Dingen gar nicht sprechen —, war ein gewisser Geist, den sie in das türkische Offizierskorps hineingetragen haben, der Geist des ,elejanten Jardeoffiziers’ (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.), der Geist, der sich in diesem Kampfe so außerordentlich verderblich für die türkische Armee erwiesen hat. Man spricht davon, daß Leichen von Offizieren in Lackschuhen usw. gefunden wurden. Die Überhebung über die Masse des Volkes, über die Masse der Soldaten vor allen Dingen, dieses Rauskehren des Offiziers, dieses Von-oben-runter-Befehlen hat das Vertrauensverhältnis in der türkischen Armee in der Wurzel zerstört, und so begreift sich denn auch, daß dieser Geist mit dazu beigetragen hat, die innere Auflösung der türkischen Armee herbeizuführen.