Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 52

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die Jagd auf Goldautomobile, die einander jagenden falschen Telegramme, die mit Cholerabazillen vergifteten Brunnen, die auf jede Eisenbahnbrücke Berlins bombenwerfenden russischen Studenten, die über Nürnberg fliegenden Franzosen, die Straßenexzesse des spionewitternden Publikums, das wogende Menschengedränge in den Konditoreien, wo ohrenbetäubende Musik und patriotische Gesänge die höchsten Wellen schlugen; ganze Stadtbevölkerungen in Pöbel verwandelt, bereit zu denunzieren, Frauen zu mißhandeln, hurra zu schreien und sich selbst durch wilde Gerüchte ins Delirium zu steigern; eine Ritualmordatmosphäre, eine Kischinjow-Luft[1], in der der Schutzmann an der Straßenecke der einzige Repräsentant der Menschenwürde war.

Die Regie ist aus. Die deutschen Gelehrten, die „wankenden Lemuren”, sind längst zurückgepfiffen. Die Reservistenzüge werden nicht mehr vom lauten Jubel der nachstürzenden Jungfrauen begleitet, sie grüßen nicht mehr das Volk aus den Wagenfenstern mit freudigem Lächeln; sie trotten still, ihren Karton in der Hand, durch die Straßen, in denen das Publikum mit verdrießlichen Gesichtern dem Tagesgeschäft nachgeht.

In der nüchternen Atmosphäre des bleichen Tages tönt ein anderer Chorus: der heisere Schrei der Geier und Hyänen des Schlachtfeldes. Zehntausend Zeltbahnen, garantiert vorschriftsmäßig! Hunderttausend Kilo Speck, Kakaopulver, Kaffee-Ersatz, nur per Kasse, sofort lieferbar! Granaten, Drehbänke, Patronentaschen, Heiratsvermittlung für Witwen der Gefallenen, Ledergurte, Vermittlung von Heereslieferungen – nur ernstgemeinte Offerten! Das im August, im September verladene und patriotisch angehochte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in Masuren in Totenäckern, auf denen der Profit mächtig in die Halme schießt. Es gilt, rasch die Ernte in die Scheunen zu bringen. Über den Ozean strecken sich tausend gierige Hände, um mit zu raffen.

Das Geschäft gedeiht auf Trümmern. Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völkerrecht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen; jeder Souverän von Gottes Gnaden den Vetter von der Gegenseite als Trottel und wortbrüchigen Wicht, jeder Diplomat den Kollegen von der anderen Partei als abgefeimten Schurken, jede Regierung die andere als das Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend; und Hunger-

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[1] Im April 1903 hatten in Kischinjow die vom zaristischen Regime geschaffenen bewaffneten Organisationen, die Schwarzhunderter, Juden, Studenten, Revolutionäre und klassenbewußte Arbeiter terrorisiert. Diese Pogrome waren eine Reaktion des Zarenregimes auf Streiks und Demonstrationen der Arbeiter. (Siehe dazu Rosa Luxemburg: Einleitung. In: GW, Bd. 4, S. 325 f.)