Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 399

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schiebt damit die Revolution auf das Geleise einer bürgerlichen Revolution, eskamotiert die sozialistischen Ziele der Revolution;

sie tut nichts, um die weiter bestehende Macht der kapitalistischen Klassenherrschaft zu zertrümmern;

sie tut alles, um die Bourgeoisie zu beruhigen, um die Heiligkeit des Eigentums zu verkünden, um die Unantastbarkeit des Kapitalsverhältnisses zu sichern ;

sie läßt die sich auf Schritt und Tritt regende Gegenrevolution ruhig gewähren, ohne an die Masse zu appellieren, ohne das Volk laut zu warnen.

Ruhe! Ordnung! Ordnung! Ruhe! So hallt es von allen Seiten, aus allen Kundgebungen der Regierung, so jubelt das Echo aus allen bürgerlichen Lagern. Das Gezeter gegen das Gespenst der „Anarchie” und des „Putschismus”, die bekannte Höllenmusik des um Kassenschränke, Eigentum und Profite besorgten Bourgeois ist die lauteste Note des Tages, und die revolutionäre Arbeiter- und Soldaten-Regierung – duldet ruhig diesen Generalmarsch zum Sturm gegen den Sozialismus, ja, sie beteiligt sich daran mit Wort und Tat.

Das Fazit der ersten Woche der Revolution heißt: Im Staate der Hohenzollern hat sich im wesentlichen nichts verändert, die Arbeiter- und Soldaten-Regierung fungiert als Stellvertreterin der imperialistischen Regierung, die bankrott geworden ist. All ihr Tun und Lassen ist von der Furcht vor der Arbeitermasse getragen. Bevor die Revolution noch Kraft, Schwung, Anlauf genommen, wird ihre einzige Lebenskraft, ihr sozialistischer und proletarischer Charakter, eskamotiert.

Alles ist in Ordnung. Der reaktionäre Staat der zivilisierten Welt wird nicht in 24 Stunden zum revolutionären Volksstaat. Soldaten, die gestern in Finnland, Rußland, der Ukraine, im Baltikum als Gendarmen der Reaktion revolutionäre Proletarier mordeten, und Arbeiter, die dies ruhig geschehen ließen, sind nicht in 24 Stunden zu zielklaren Trägern des Sozialismus geworden.

Das Bild der deutschen Revolution entspricht der inneren Reife der deutschen Verhältnisse. Scheidemann–Ebert sind die berufene Regierung der deutschen Revolution in ihrem heutigen Stadium. Und die Unabhängigen[1], die mit Scheidemann–Ebert zusammen Sozialismus machen zu können glauben, die jenen in der „Freiheit” feierlich attestieren, daß man gemeinsam mit ihnen eine „rein sozialistische Regierung” bilde[2], qualifizie-

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[1] Auf einer Konferenz der Parteiopposition in Gotha vom 6. bis 8. April 1917 wurde die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands gegründet. Trotz grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten mit der USPD-Führung schloß sich die Gruppe „Internationale” (Spartakusgruppe) der USPD an, wobei sie sich ihre politisch-ideologische Selbständigkeit und eine eigene organisatorische Tätigkeit vorbehielt.

[2] Siehe An die Partei! In: Die Freiheit (Berlin), Nr. 1. vom 15. November 1918.