Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 368

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/368

Philadelphia – auf dem nationalistischen Blocksberg ist heute Walpurgisnacht.

Es trägt der Besen, trägt der Stock…

Der flieget nie, der heut nicht flog.[1]

Aber der Nationalismus ist nur die Formel. Der Kern, der historische Inhalt, der darunter steckt, ist so mannigfaltig und beziehungsreich, wie die Formel der „nationalen Selbstbestimmung”, unter der er sich verbirgt, hohl und dürftig ist.

Wie in jeder großen revolutionären Periode, kommen jetzt die verschiedensten alten und neuen Rechnungen zur Begleichung, Gegensätze zum Austrag: antiquierte Reste der Vergangenheit mit aktuellsten Fragen der Gegenwart und kaum geborenen Problemen der Zukunft bunt durcheinander. Zerfall Österreichs und der Türkei ist die letzte Liquidierung noch des feudalen Mittelalters, ein Nachtrag zur Arbeit Napoleons. Im Zusammenhang jedoch mit dem Zusammenbruch und der Reduktion Deutschlands ist es der Bankerott des jüngsten und kräftigsten Imperialismus und seiner erst im Kriege geformten Weltherrschaftspläne. Zugleich ist es der Bankerott nur einer speziellen Methode der imperialistischen Herrschaft: durch ostelbische Reaktion und Militärdiktatur, durch Belagerungszustand und Ausrottungsmethoden, es ist der Zusammenbruch der Trotha-Strategie[2], von den Hereros aus der Kalahari-Wüste auf Europa übertragen. Der Zerfall Rußlands, äußerlich und formell in seinen Resultaten: Bildung neuer kleiner Nationalstaaten – dem Zerfall Österreichs und der Türkei analog, birgt ein entgegengesetztes Problem: einerseits Kapitulation der proletarischen Politik auf nationalem Maßstabe vor dem Imperialismus, andererseits kapitalistische Konterrevolution gegen die proletarische Machtergreifung.

Ein K[autsky] sieht hier in seinem pedantischen, schulmeisterlichen Schematismus den Triumph der „Demokratie”, deren einfaches Zubehör und Erscheinungsform der Nationalstaat sei. Der trockene kleinbürgerliche Formalist vergißt natürlich, in den inneren historischen Kern hineinzublicken, vergißt als berufener Tempelwächter des historischen Materialismus, daß „Nationalstaat” und „Nationalismus” an sich leere Hülsen sind, in die jede historische Epoche und die Klassenverhältnisse in jedem Lande ihren besonderen materiellen Inhalt gießen. Deutscher

Nächste Seite »



[1] Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe: Poetische Werke. Dramatische Dichtungen IV, Berlin 1965, S. 279.

[2] Im Jahre 1904 hatte sich in Südwestafrika das Volk der Hereros gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Die deutschen Kolonialtruppen hatten bei ihrem Unterdrückungsfeldzug auf Befehl des Generals Lothar von Trotha die Eingeborenen in die Wüste getrieben, von den Wasservorkommen abgeschnitten und damit einem grausamen Tod ausgeliefert.