Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 142

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und selbst seiner herrschenden Klassen in Betracht, so steht allerdings reine nationale Verteidigung in Frage. Aber die proletarische Politik, die auf historischer Erkenntnis beruht, kann sich nicht nach den subjektiven Absichten in einem einzelnen Lande richten, sie muß sich an dem Gesamtkomplex der weltpolitischen Lage international orientieren. Auch Holland ist, ob es will oder nicht, nur ein kleines Rädchen in dem ganzen Getriebe der heutigen Weltpolitik und Diplomatie. Dies würde sofort klar werden, falls Holland tatsächlich in den Malstrom des Weltkrieges hineingerissen würde. Das erste ist, daß seine Gegner auch gegen seine Kolonien den Schlag zu führen suchen würden. Hollands Kriegführung würde sich also von selbst auf die Erhaltung seines heutigen Besitzstandes richten, die Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit des Flamenvolkes an der Nordsee würde sich konkret erweitern zur Verteidigung seines Herrschafts- und Ausbeuterrechts über die Malayen im Ostindischen Archipel. Aber nicht genug: Der Militarismus Hollands würde, auf sich gestellt, in dem Strudel des Weltkriegs wie eine Nußschale zerschellen, Holland würde auch, ob es will oder nicht, sofort Mitglied eines der kämpfenden Großstaatkonsortien, also auch von dieser Seite Träger und Werkzeug rein imperialistischer Tendenzen werden.

Auf diese Weise ist es immer wieder das historische Milieu des heutigen Imperialismus, das den Charakter der Kriege in den einzelnen Ländern bestimmt, und dieses Milieu macht es, daß heutzutage nationale Verteidigungskriege überhaupt nicht mehr möglich sind.

So schrieb auch Kautsky erst vor wenigen Jahren in seiner Broschüre „Patriotismus und Sozialdemokratie”, Leipzig 1907:

„Sind der Patriotismus der Bourgeoisie und des Proletariats zwei ganz verschiedene, geradezu gegensätzliche Erscheinungen, so gibt es doch Situationen, in denen beide Arten von Patriotismus zu gemeinsamem Wirken sogar in einem Kriege zusammenfließen können.

Bourgeoisie und Proletariat einer Nation haben das gleiche Interesse an ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit, an der Beseitigung und Fernhaltung jeder Art von Unterdrückung und Ausbeutung durch eine fremde Nation … Bei den nationalen Kämpfen, die derartigen Bestrebungen entsprossen, hat sich stets der Patriotismus des Proletariats mit dem der Bourgeoisie vereinigt … Seitdem aber das Proletariat eine Macht geworden ist, die bei jeder größeren Erschütterung des Staates für die herrschenden Klassen gefährlich wird; seitdem am Ende eines Krieges die Revolution droht, wie die Pariser Kommune 1871 und der russische Terrorismus nach dem russisch-türkischen Krieg bewiesen, seitdem hat die

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