Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 129

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Gefahren für die Kultur und „freiheitliche Entwicklung” Deutschlands. Und alle jene Faktoren stärkt jetzt der Krieg, der Belagerungszustand und die Haltung der Sozialdemokratie in höchstem Maße. Es gibt freilich eine echt liberale Ausrede für die heutige Kirchhofsruhe in Deutschland: Das sei ja nur „zeitweiliger” Verzicht für die Dauer des Krieges. Aber ein politisch reifes Volk kann sowenig „zeitweilig” auf die politischen Rechte und das öffentliche Leben verzichten, wie ein lebender Mensch auf das Luftatmen „verzichten” kann. Ein Volk, das durch sein Verhalten zugibt, während des Krieges sei Belagerungszustand notwendig, hat damit zugegeben, die politische Freiheit sei überhaupt entbehrlich. Die duldende Zustimmung der Sozialdemokratie zum heutigen Belagerungszustand – und ihre Kreditbewilligung ohne jeden Vorbehalt wie die Annahme des Burgfriedens bedeutet nichts anderes – muß im gleichen Maße auf die Volksmassen, diese einzige Stütze der Verfassung in Deutschland, demoralisierend wirken, wie sie auf die herrschende Reaktion, den Feind der Verfassung, ermutigend und stärkend wirkt.

Durch den Verzicht auf den Klassenkampf hat sich unsere Partei aber zugleich eine wirksame Beeinflussung der Dauer des Krieges und der Gestaltung des Friedensschlusses abgeschnitten. Und hier schlug sie ihrer eigenen offiziellen Erklärung ins Gesicht. Eine Partei, die sich feierlich verwahrte gegen alle Annexionen, d. h. gegen unvermeidliche logische Konsequenzen des imperialistischen Krieges, sofern er militärisch glücklich verläuft, lieferte zugleich durch Annahme des Burgfriedens alle Mittel und Waffen aus, die geeignet wären, die Volksmassen, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu mobilisieren, durch sie einen wirksamen Druck auszuüben und so den Krieg zu kontrollieren, den Frieden zu beeinflussen. Umgekehrt. Indem sie durch den Burgfrieden dem Militarismus Ruhe im Rücken sicherte, erlaubte ihm die Sozialdemokratie ohne jede Rücksicht auf andere Interessen als die der herrschenden Klassen, seinen Bahnen zu folgen, entfesselte sie seine ungezügelten inneren imperialistischen Tendenzen, die gerade nach Annexion streben und zu Annexionen führen müssen. Mit andern Worten: Die Sozialdemokratie verurteilte durch die Annahme des Burgfriedens und die politische Entwaffnung der Arbeiterklasse ihre eigene feierliche Verwahrung gegen jede Annexion dazu, eine ohnmächtige Phrase zu bleiben.

Aber damit ist noch ein anderes erreicht: die Verlängerung des Krieges! Und hier ist es mit Händen zu greifen, welcher gefährliche Fallstrick für die proletarische Politik in dem jetzt geläufigen Dogma liegt: Unser Widerstand gegen den Krieg könne nur so lange geboten werden, als erst Kriegs-

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