Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 99

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schaftliche Kassen sowie preußische Bajonette zweifellos sehr materielle und auch sehr historische Erscheinungen, allein die darauf basierte Auffassung ist kein historischer Materialismus im Sinne von Marx, sondern ein polizeilicher Materialismus im Sinne Puttkamers[1]. Auch die Vertreter des kapitalistischen Polizeistaats rechnen sehr, und zwar ausschließlich mit der jeweiligen tatsächlichen Macht des organisierten Proletariats sowie mit der materiellen Macht der Bajonette, und aus dem vergleichenden Exempel dieser beiden Zahlenreihen wird noch immer der beruhigende Schluß gezogen: Die revolutionäre Arbeiterbewegung wird von einzelnen Wühlern und Hetzern erzeugt, ergo haben wir in den Gefängnissen und den Bajonetten ein ausreichendes Mittel, um der unliebsamen „vorübergehenden Erscheinung“ Herr zu werden.

Die klassenbewußte deutsche Arbeiterschaft hat längst das Humoristische der polizeilichen Theorie begriffen, als sei die ganze moderne Arbeiterbewegung ein künstliches, willkürliches Produkt einer Handvoll gewissenloser „Wühler und Hetzer“.

Es ist aber genau dieselbe Auffassung, die darin zum Ausdruck kommt, wenn sich ein paar brave Genossen zu einer freiwilligen Nachtwächterkolonne zusammentun, um die deutsche Arbeiterschaft vor dem gefährlichen Treiben einiger „Revolutionsromantiker“ und ihrer „Propaganda des Massenstreiks“ zu warnen; oder wenn auf der anderen Seite eine larmoyante Entrüstungskampagne von denjenigen inszeniert wird, die sich durch irgendwelche „vertraulichen“ Abmachungen des Parteivorstandes mit der Generalkommission der Gewerkschaften[2] um den Ausbruch des Massenstreiks in Deutschland betrogen glauben. Käme es auf die zündende „Propaganda“ der Revolutionsromantiker oder auf vertrauliche oder öffentliche Beschlüsse der Parteileitungen an, dann hätten wir bis jetzt in Rußland keinen einzigen ernsten Massenstreik. In keinem Lande dachte man – wie ich bereits im März 1905 in der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung“ hervorgehoben habe[3] – so wenig daran, den Massenstreik zu

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[1] Robert von Puttkamer, von 1881 bis 1888 preußischer Innenminister, hatte den Bismarckschen Polizeistaat weiter ausgebaut. In einem Streikerlaß verlangte er von allen Staatsorganen verschärftes Vorgehen gegen Streikende und forderte die Polizei offen zu ungesetzlichem Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung auf.

[2] In einer geheimen Beratung des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie mit der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands am 16. Februar 1906 hatte der Parteivorstand den Gewerkschaftsführern das Zugeständnis gemacht, den politischen Massenstreik nicht ohne ihr Einverständnis zu propagieren und ihn, wenn möglich, zu verhindern. Falls er trotzdem ausbrechen sollte, brauchten sich die Gewerkschaften nicht daran zu beteiligen.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Eine Probe aufs Exempel. In: GW, Bd. 1/2, S. 528–532.