Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 240

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Offener Brief an Jean Jaurès

Werter Genosse!

Sie haben für gut befunden, im Berliner Organ des deutschen Freisinns Ihre Ansichten über die gegenwärtige politische Situation darzulegen[1] und darin die Entente cordiale zwischen Frankreich, England und Rußland von dem Verdacht zu reinigen gesucht, als sei sie eine Kriegsgefahr. Im Gegenteil, Sie feiern diese Verständigung als einen Beweis, daß es keine unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten gebe, und als einen Ansatz zur Festigung des Friedens in Europa. Sie schreiben:

„Eine Verständigung zwischen Frankreich, England und Rußland, eine ‘Triple-Entente’, bedeutet an sich nicht eine Bedrohung des Friedens. Sie kann sogar friedliche Zwecke und friedliche Wirkungen haben. In jedem Falle beweist sie, daß viele als unvereinbar abgestempelte Gegensätze sich dennoch einen lassen. Zur Zeit von Faschoda[2] schienen Frankreich und England am Vorabend eines Krieges zu stehen; jetzt haben sie die Entente cordiale geschlossen. Als ich noch ein Kind war, lernte ich in der Schule, daß England und Rußland vom Schicksal zur Gegnerschaft in Asien bestimmt seien. Jetzt haben wir die Zusammenkunft in Reval[3] erlebt, die friedliche Abmachungen über die Verhältnisse in Asien ergab – vielleicht auch über die Verhältnisse in Europa.

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[1] Jean Jaurès war vom Pariser Korrespondenten des „Berliner Tageblattes“ aufgefordert worden, zur internationalen Lage Stellung zu nehmen. Sein Schreiben an die Redaktion erschien im „Berliner Tageblatt und Handelszeitung“, Nr. 346 vom 10. Juli 1908.

[2] Im September 1898 war es während eines Konfliktes zwischen Frankreich und Großbritannien um den Besitz des Sudan zu einem Zusammenstoß bei Faschoda gekommen, der beide Länder an den Rand eines Krieges führte. Der Konflikt wurde im März 1899 durch den formellen Verzicht Frankreichs im Austausch gegen einige andere afrikanische Gebiete beigelegt.

[3] Am 9. und 10. Juni 1908 fand in Reval eine Zusammenkunft des Zaren Nikolaus II. mit dem englischen König Eduard VII. statt, auf der die 1907 abgeschlossenen Verträge und die Übereinstimmung der Ansichten über die Lage in Persien, Afghanistan und Makedonien bekräftigt wurden.