Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 530

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Unser Kampf um die Macht. Rede am 14. Juni 1911 in Königsberg in einer Volksversammlung

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Nach einem Zeitungsbericht

Im Garten unseres Parteilokals fand gestern abend eine stark besuchte Versammlung statt. Trotz des regnerischen Wetters hatten sich Tausende eingefunden, die mit immer wachsender Spannung dem zündenden Vortrage der Genossin Rosa Luxemburg folgten, bald durch stürmischen Beifall, bald durch wohlberechtigte Entrüstungsrufe ihre Ausführungen unterstreichend. Die Referentin führte etwa folgendes aus:

Wir leben jetzt in Deutschland in einer tiefernsten und bewegten Zeit. Die Aufmerksamkeit aller ist bereits gerichtet auf die kommenden Reichstagswahlen[2], und doch weiß heute noch kein Mensch, wann sie stattfinden. Sie werden als Leser von Zeitungen gewiß gefunden haben, daß sich die verschiedensten Leute darüber die Köpfe zerbrechen, wann die Schlacht geschlagen werden soll. Es ist das reinste Frage-und-Antwort-Spiel, und es ist bezeichnend für unsere politischen Zustände, daß man über eine so wichtige Frage die Öffentlichkeit fortdauernd vollständig im dunkeln läßt. Ist das vielleicht Zufall? O nein; diese charakteristische Erscheinung ist kein Zufall. Die „maßgebenden“ Kreise haben alle Ursache, um diese wichtige Frage herumzugehen wie die Katze um den heißen Brei. Mit einem Gefühl wie vor dem nach christlicher Anschauung zu erwartenden jüngsten Gericht, mit klappernder Angst sehen die Herrschenden dem Volksgericht entgegen. Noch immer suchen sie nach einer Parole, nach einer Gelegenheit, um die in patriotische Aufwallung versetzten Massen wie Schafe an die Urne treiben zu können. Die Älteren unter Ihnen werden sich noch der berüchtigten Faschingswahlen von 1887[3] erinnern, die

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.

[3] Am 21. Februar 1887 hatte Otto von Bismarck die als Faschings- oder Kartellwahlen bezeichneten Reichstagswahlen zu einer demagogisch-chauvinistischen Hetze gegen die Sozialdemokratie benutzt. Trotz Stimmengewinns der Sozialdemokratie führte die undemokratische Wahlkreiseinteilung in den Stichwahlen zu einem starken Rückgang ihrer Mandate im Reichstag.