Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 182

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Die zwei Methoden der Gewerkschaftspolitik

Die neue Tarifvereinbarung des Buchdruckerverbandes[1] scheint äußerlich in gar keinem Zusammenhang mit den Verhandlungen des Mannheimer Parteitags[2] zu stehen, ist ihm aber als ein denkbar drastischer Kommentar auf dem Fuße gefolgt. Die Gewerkschaft der Buchdrucker gilt ja seit langer Zeit in Deutschland als ein Musterbeispiel der Macht und der Erfolge auf wirtschaftlichem Gebiet, die eine proletarische Organisation erreichen könne, wenn sie nur auf dem „positiven Boden“ der ausschließlichen Gegenwartsinteressen der Arbeiter stehe und allen „revolutionsromantischen“ Lockungen sorgfältig das Gehör verschließe. Der deutsche Buchdruckerverband ist auch in seiner ganzen Geschichte – von der Anerkennung jener bewußten Klausel, die ihm unter dem Sozialistengesetz von der Reaktion aufoktroyiert ward[3], bis zu der jüngsten Tarifabmachung – die klassische Verkörperung jener Methode der Gewerkschaftspolitik, die Ruhe dem Kampf, Abmachung mit dem Kapital dem Konflikt, politische Neutralität einer offenen Bekennung zur Sozialdemokratischen Partei vorzieht und voller Verachtung für revolutionäre „Schwärmerei“ ihr Ideal in dem englischen Typus der Trade-Unions erblickt. Es währte lange, bis

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[1] Der Tarifausschuß im Buchdruckgewerbe hatte in Verhandlungen vom 24. September bis 2. Oktober 1906 einen neuen Tarifvertrag vereinbart, der nur eine Lohnerhöhung von 10 Prozent vorsah, die der allgemeinen Steigerung der Lebenshaltungskosten nicht entsprach, und durch den die Arbeitszeit nur um eine halbe Stunde pro Woche verkürzt wurde. Gleichzeitig war zwischen dem Buchdrucker-Verein der Unternehmer und dem Verband der Deutschen Buchdrucker ein Organisationsvertrag abgeschlossen worden, in dem u. a. im Interesse der Unternehmer eine Kündigungsfrist zur „Vermeidung plötzlicher Arbeitsniederlegungen“ vorgesehen war.

[2] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Mannheim fand vom 23. bis 29. September 1906 statt.

[3] Um den Fortbestand des deutschen Buchdruckerverbandes während des Sozialistengesetzes zu sichern, wurde der Verband in einen Unterstützungsverein Deutscher Buchdrucker verwandelt und weitgehend auf eine konsequente Klassenpolitik verzichtet.