Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 378

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Die Theorie und die Praxis

[1]

I

Die erste Frage, die in unserer gegenwärtigen Auseinandersetzung das Interesse der Parteikreise beansprucht, ist die, ob der Diskussion über den Massenstreik in der Parteipresse, namentlich im „Vorwärts“ und in der „Neuen Zeit“, Hindernisse in den Weg gelegt worden sind oder nicht. Genosse Kautsky bestreitet dies, indem er behauptet, es sei ihm „natürlich nie eingefallen, das Diskutieren des Massenstreiks ‚verbieten‘ zu wol‑

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[1] Das unerwartete Pronunziamento in Baden [Am 14. Juli 1910 hatte die Mehrheit der sozialdemokratischen Landtagsfraktion in Baden dem Budget zugestimmt. Auf dem Parteitag in Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910 waren der Disziplinbruch und das prinzipienlose Verhalten der badischen Budgetbewilliger gegenüber dem Staat von der Mehrheit der Delegierten verurteilt und zum Teil ihr Ausschluß aus der Partei gefordert worden.] macht in einer Reihe Parteigenossen und uns selbst den Wunsch rege, in der „Neuen Zeit“ alles zurückzuschieben, was als Streit im eigenen Lager des Marxismus erscheint. Wir haben ferner die Empfindung, daß unter dem Eindruck der badischen Vorkommnisse das Interesse unserer Leser für eine Diskussion wie die vorliegende nur ein geringes sein kann. Aus diesen Gründen hielten wir es für rätlich, den Abdruck des Artikels der Genossin Luxemburg zu verschieben, und schlugen ihr vor, dies mit folgender Erklärung der Redaktion zu motivieren, der sich die nachfolgende Ehrenerklärung Kautskys anschließen sollte:

“An unsere Leser! Es ist uns eine ausführliche Erwiderung der Genossin Luxemburg in der Frage des Massenstreiks zugegangen, deren erster Teil in der vorliegenden Nummer erscheinen sollte und schon abgesetzt war. Im Einvernehmen mit der Genossin Luxemburg stellen wir diese Erwiderung zurück, da es in dem gegenwärtigen Moment, angesichts der unerhörten Provokation eines Teiles der sozialistischen Landtagsfraktion Badens, ihres frivolen Bruches der Parteidisziplin und ihres Byzantinismus, Aufgabe aller revolutionären und wirklich republikanisch gesinnten Elemente in unserer Partei ist, einheitlich zusammenzustehen und alle Differenzen gegenüber einem Opportunismus beiseite zu schieben, dem die gute Meinung der Nationalliberalen höher steht als die

Willensmeinung und die Achtung des sozialdemokratischen Proletariats Deutschlands. Die Red.
Anschließend daran fühle ich mich veranlaßt, heute schon einen Irrtum zu berichtigen, der in dem zurückgestellten Artikel der Genossin Luxemburg klargestellt wird. Der Passus über die republikanische Agitation, der meine Bedenken erregte, ist nicht, wie ich annahm, unveröffentlicht geblieben, sondern mit einer neuen Einleitung und neuem Schlusse versehen als besonderer Artikel in der Breslauer ‚Volkswacht‘ erschienen. Meine Schlußfolgerungen, die ich an die vermeintliche Nichtveröffentlichung knüpfte, werden damit hinfällig.

An unseren sachlichen Differenzen ändert das nichts. Aber diese auszutragen muß aus den oben angeführten Gründen auf einen günstigeren Zeitpunkt verschoben werden. K. Kautsky“

Die Genossin Luxemburg weigert sich, riner Verschiebung ihres Artikels zuzustimmen. Ihre Angelegenheit erscheint ihr so ungeheuer wichtig, daß sie nicht den mindesten Aufschub duldet. Wäre ihr Widerpart nicht Redakteur der “Neuen Zeit“ selbst, so würden wir uns durch den Widerspruch der Genossin Luxemburg nicht abhalten lassen, einen Artikel zurückzustellen, der im gegenwärtigen Moment der Sache des Proletariats nur schaden kann. Denn er vermöchte, wenn er jetzt überhaupt beachtet würde, nur zu bewirken, daß die Aufmerksamkeit der Genossen zersplittert wird, die sich im Moment einmütig auf die badischen „Insurgenten“ konzentrieren muß. Und er stellt sich die Aufgabe, den Parteivorstand, den „Vorwärts“, überhaupt jene Elemente zu diskreditieren, hinter denen wir jetzt den Disziplinbrechern gegenüber geschlossen stehen müssen.

In eigener Sache wollen wir jedoch auch nicht einmal eine bloß aufschiebende Entscheidung treffen. Die Genossen werden aber begreifen, daß Kautsky es für einen Fehler hielte, der Genossin Luxemburg jetzt zu antworten. Jetzt gilt es andere Fragen zu entscheiden. Eine gründliche Abrechnung mit ihr, Zurückweisung falscher Behauptungen und Beleuchtung ihrer Zitiermethoden soll der Genossin Luxemburg nicht erspart bleiben. Dafür wird aber der geeignete Moment erst gekommen sein, nachdem der badische Vorstoß zurückgewiesen ist. Im Augenblick gibt es Wichtigeres zu tun. Die Red.