Gefährliche Neuerungen
Leipzig, 9. Mai
Mit der Kandidatur Lindemann[1] haben die Stuttgarter Genossen der Partei die größte Überraschung bereitet, die sie seit Jahren erlebt hat. Und man muß gestehen, daß diese Überraschung keineswegs freudiger Natur ist. Die Mehrzahl der Parteigenossen im Reich – ganz gleich, welcher engeren Parteirichtung ihre Sympathien gehören mögen – wird sich angesichts der Vorgänge in Stuttgart des bangen Gefühls nicht erwehren, daß die Sozialdemokratie hier auf Wege geführt werden soll, die ihr ernste Gefahren und Verlegenheiten bringen können.
Zunächst galt es bis jetzt in der deutschen Sozialdemokratie als Grundsatz, daß wir, gestützt auf die klassenbewußten Arbeitermassen, nur solche Posten im Staate besetzen, auf denen wir den Klassenkampf des Proletariats führen, auf denen wir im Sinne des sozialdemokratischen Programms wirken können. Die Übernahme von Posten, die ihrer Natur nach im bürgerlichen Staate von vorneherein die Tätigkeit im Sinne des sozialdemokratischen Programms ausschließen, ist von unsrer Partei seit jeher abgelehnt und verurteilt worden. Von diesem Standpunkt erklärte sich die deutsche Partei auf den internationalen Kongressen auch scharf und unzweideutig gegen das Millerandsche Experiment[2].
Daß der Posten eines Oberbürgermeisters nicht geschaffen ist, um zum Klassenkampf des Proletariats und zur Wirkung im Sinne des sozialdemokratischen Programms zu dienen, ist von vorneherein klar. Wird deshalb ein solcher Posten von einem Sozialdemokraten übernommen, so muß dieser – und mag er persönlich noch so fest und prinzipientreu sein – in
[1] Zu der Wahl eines neuen Oberbürgermeisters in Stuttgart am 12. Mai 1911 hatten die Stuttgarter Sozialdemokraten Hugo Lindemann als Kandidaten aufgestellt. Bei der Wahl erlitt er eine Niederlage.
[2] Der französische Sozialist Alexandre-Etienne Millerand war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser Schritt führte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären und reformerischen Kräften.