Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 554

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/554

Zum kommenden Parteitag

Leipzig, 29. Juni

Die vom Parteivorstand veröffentlichte Tagesordnung des diesjährigen Parteitags[1] ermangelt nicht der Originalität. Sie enthält – abgesehen von den ordnungsgemäßen Berichten des Vorstands, der Kontrollkommission und der Reichstagsfraktion – im Grunde genommen nur einen einzigen Punkt: die bevorstehenden Reichstagswahlen[2]. Die Reichsversicherungsordnung[3], die den andern Punkt der eigentlichen Tagesordnung bildet, ist zwar an sich ein höchst wichtiger Gegenstand, der auf dem Parteitag selbstverständlich verhandelt werden muß. Allein die parlamentarischen Geschicke der Reichsversicherung als eines Gesetzes sind bereits entschieden. Was jetzt übrigbleibt, ist die gebührende Ausnutzung des uns dabei gelieferten Materials gegen die Regierung und sämtliche bürgerliche Parteien zur Aufklärung und Aufrüttelung der breitesten Kreise des Proletariats. Diese Aufklärungs- und Aufrüttelungsarbeit verflicht sich ganz naturgemäß mit unserm allgemeinen Wahlkampf, in dem sie eine hervorragende Rolle zu spielen berufen ist. Materiell Neues zur Beleuchtung der Reichsversicherungsordnung wird nach den ausführlichen Betrachtungen in unsrer gesamten Parteipresse und nach den Reden und Anträgen unsrer Fraktion im Reichstag kaum noch übrigbleiben. Worauf es jetzt ankommt, sind die großen taktischen Richtlinien für die agitatorische Verwertung des neuen Attentats auf die Arbeiterklasse, damit gliedert sich aber der 4. Punkt der vorgeschlagenen Tagesordnung des Parteitags organisch dem 5„ den Reichstagswahlen, an. So haben wir eigentlich einen Parteitag, der nur zu dem Ende zusammentreten soll, um über die bevorstehenden

Nächste Seite »



[1] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 10. bis 16. September 1911 in Jena statt.

[2] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.

[3] Am 30. Mai 1911 war im Reichstag die Vorlage zur Reichsversicherungsordnung angenommen worden, ohne daß die von der Sozialdemokratie gestellten Forderungen nach höheren sozialen Leistungen und deren Ausdehnung auf Landarbeiter sowie nach einer Herabsetzung des Rentenalters berücksichtigt wurden. Gegen den weiteren Abbau der demokratischen und sozialen Rechte der Werktätigen hatte es wiederholt Protestversammlungen gegeben.