Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 334

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Die Maifeier im Zeichen des Wahlrechtskampfes

Am vorletzten Sonntag hat das klassenbewußte Proletariat Preußens seinen ersten großen Sieg im gegenwärtigen Wahlrechtskampfe[1] gefeiert: Das Recht auf die Straße, das Recht der Massendemonstration ist errungen worden. Es ist nun das erste Gebot einer echten Kampftaktik, jede Errungenschaft sofort vollauf auszunutzen, jede dem Gegner abgetrotzte Position des Schlachtfeldes sofort bis auf den letzten Fußbreit zu besetzen, um so die Schlachtlinie im ganzen vorwärtszuschieben, den Gegner Schritt für Schritt zurückzudrängen.

Das Recht auf Straßendemonstration, das wir errungen haben, soll und muß vollauf ausgenutzt werden als vorzüglichstes Mittel, die Massen zu sammeln, sie aufzurütteln, sie aufzuklären, sie mit Kampfesmut zu erfüllen, als vorzüglichstes Mittel, die Macht der klassenbewußten Arbeiterschaft sichtbar zu entfalten und den Gegnern vor die Augen zu führen.

Im gegenwärtigen Augenblick ergibt sich von selbst der nächste Termin für eine abermalige gewaltige Massendemonstration des einheitlichen revolutionären Willens des Proletariats: Es ist dies der 1. Mai.

In diesem Jahre fällt zum Glück der leidige Streit um die Maifeier von selbst weg, jener Streit, der zweifellos dem Maigedanken in hohem Maße geschadet, die Tatkraft unserer Agitatoren gelähmt, die Begeisterung der Massen für die Maifeier abgekühlt hat. Der Streit um die Maifeier als Arbeitsruhe ist für dieses Jahr erledigt, weil die Maifeier auf einen Sonntag fällt. Alle überzeugten Freunde der Maifeier könnten diesen Umstand eigentlich bedauern. Denn die Zeichen, unter denen die Maifeier in diesem Jahre heranrückt, die allgemeine Erregung der Geister, die Kampfeslust der Massen, das alles würde zweifellos gerade die heurige Maifeier

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[1] Am 10. April 1910 fanden in ganz Preußen und anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht statt, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wiedererkämpft hatten. (Traugott von Jagow, von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin, hatte am 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung folgende „Bekanntmachung“ veröffentlichen lassen: „Es wird das ‚Recht auf die Straße’ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ [Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg. 1910, Berlin o. J., S. 74.])