Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 335

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zu einer so machtvollen Demonstration auch in der Form der Arbeitsruhe gestalten, daß der bedauernswerte Streit um die Maifeier durch die Praxis die glücklichste Lösung gefunden hätte. Allein, wenn nicht als Arbeitsruhe, kann die Maifeier in diesem Jahre doch einen ganz ungeahnten Aufschwung nehmen und die größte Tragweite erhalten – durch die Form der allgemeinen, einheitlichen Straßendemonstrationen. Gerade als eine Fortsetzung des im Wahlrechtskampfe errungenen neuen Kampfmittels der Sozialdemokratie kann und muß die Maifeier aus der Stagnation der letzten Jahre wieder aufsteigen und ihre innere werbende und zündende Kraft entfalten. Wann waren in der Tat die leitenden Gedanken der Maifeier: Achtstundentag, Weltfrieden, Sozialismus, Arbeitsruhe als Machtmittel des Proletariats – lebendiger denn heute?

Wir stehen mitten in den schwersten wirtschaftlichen Kämpfen. Die Gärung im Kohlenrevier ist nur äußerlich für eine Weile zur Ruhe gekommen, lodert aber unter der Decke weiter. Im Baugewerbe hat der gewaltige offene Kampf begonnen[1] und wird seine Kreise immer weiter ziehen. Die Arbeitslosigkeit, teils als letzter Schatten der schweren Krise, die wir durchgemacht haben, teils als direkte Folge der famosen „Finanzreform“[2], verbreitet in großen Schichten der Arbeiterschaft grauenhaftes Elend; es genügt zu erwähnen, daß wir im März annähernd 40000 arbeitslose Tabakarbeiter hatten. Dazu werden jetzt immer neue Schichten hinzutreten, die durch den Kampf im Baugewerbe in Mitleidenschaft gezogen werden. Unter diesen Umständen bekommt unsere alte Losung, der Achtstundentag, neue lebendige Kraft. Als sicherstes, radikalstes Mittel zur Beseitigung wenigstens der ärgsten Mißstände der kapitalistischen Wirtschaft, als ein wahres Rettungsmittel für die Arbeiterschaft wenigstens aus dem tiefsten Elend der Überarbeitung wie der Arbeitslosigkeit, der Hungerlöhne wie der Unsicherheit der Existenz muß der Gedanke der achtstündigen Arbeit jetzt mit verdoppelter Macht in den Geistern der breitesten Masse einschlagen.

Die Idee des Achtstundentages hat sich bis jetzt von selbst mit elementarer Gewalt jeder großen Klassenregung des internationalen Proletariats zugesellt, ist wie ein leuchtendes Flammenzeichen aus jeder stürmischen Schlacht zwischen der Arbeit und dem kapitalistischen Staate aufgelodert. In Belgien war es am 1. Mai 1891, aus der Maifeier und der Demonstration um den Achtstundentag, daß der erste große Wahlrechtsmassenstreik seinen Anfang nahm. In Rußland stand auf der großen „Charte des Pro‑

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[1] Am 15. April 1910 hatten etwa 160 000 Bauarbeiter den Kampf gegen eine Massenaussperrung im Baugewerbe begonnen, um ihre Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, nach örtlichen Tarifverträgen und Agitationsfreiheit durchzusetzen. Der Streik dauerte in einigen Großstädten bis Anfang Juli.

[2] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.