Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 289

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Was weiter?

I

Die Frage des preußischen Wahlrechts, die über ein halbes Jahrhundert lang im Zustande der Unbeweglichkeit verharrte, steht heute im Brennpunkt des öffentlichen Lebens Deutschlands. Einige Wochen energischer Massenaktion des Proletariats[1] haben genügt, um den alten Sumpf der preußischen Reaktion aufzupeitschen, eine frische Brise in das politische Leben ganz Deutschlands zu wehen. Die preußische Wahlreform kann unmöglich durch parlamentarische Mittel gelöst werden, nur eine unmittelbare Massenaktion draußen im Lande vermag hier Wandel zu schaffen – diese lebendige Erkenntnis steht jetzt, nach den ersten Erfahrungen mit den Straßendemonstrationen einerseits, nach den Vorgängen in der Wahlrechtskommission des preußischen Landtags[2] andererseits, fester denn je.

Allein, wenn die jüngsten imposanten Straßendemonstrationen bereits an sich eine erfreuliche Neuerung in den äußeren Kampfformen der Sozialdemokratie bedeuten und zugleich in kräftigster Weise den Massenkampf um das preußische Wahlrecht eröffnet haben, so legen sie ihrerseits der Partei, auf deren Initiative und Leitung sie zurückzuführen sind, bestimmte Pflichten auf. Unsere Partei muß angesichts der von ihr entfachten Massenbewegung einen klaren, bestimmten Plan haben, wie sie die begonnene Massenaktion weiterzuführen gedenkt. Straßendemonstrationen sind, wie militärische Demonstrationen, gewöhnlich nur die Einleitung zum Kampfe.

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[1] Seit Mitte Januar 1910 war es in allen Teilen Deutschlands ständig zu Massenbewegungen gekommen, auf denen Hunderttausende Demonstranten das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle Personen über 20 Jahre in Preußen gefordert hatten.

[2] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages. – Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Anderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen. Bei der zweiten Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus im März 1910 hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Hirsch und Karl Liebknecht erklärt, die Sozialdemokratie werde im Kampf für ein demokratisches Wahlrecht auch außerparlamentarische Mittel einsetzen.