Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 171

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Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 23. bis 29. September 1906 in Mannheim

[1]

I. Rede zur Frage des Massenstreiks

[2]

Die Rede von Legien war geradezu ein klassisches, typisches Muster für die Haltung, die gewisse Gewerkschaftsführer in der letzten Zeit gegenüber der Sozialdemokratie und gegenüber den wichtigsten Parteifragen eingenommen haben. Erst hat er eine ganze Stunde lang die Jenaer Resolution[3] aufs schärfste kritisiert und die Unmöglichkeit und die Verderblichkeit der Idee des Massenstreiks nachgewiesen, uns davor gewarnt, und am Schlusse kam dann natürlich die herzerquickende und beruhigende Versicherung: Wir sind ja alle ein Herz und eine Seele! Also wir haben gar nicht nötig, irgendwie Streitigkeiten auszutragen; wir können uns vereinigen auf eine Resolution. Und diese Einigkeit wird in der merkwürdigsten Weise hergestellt, daß man die Kölner Resolution[4], die schon die bloße Diskussion des Massenstreiks als verderblich hinstellt, mit der Resolution von Jena für identisch erklären soll. Als ich hörte, daß Legien diesen Antrag gestellt hat, sagte ich mir, es gehört eine gehörige Portion Mut und Dreistigkeit dazu, uns zuzumuten, wir hätten dem Antrag zuzustimmen. Und ich war nicht wenig erstaunt zu hören, daß der Parteivorstand darauf eingegangen ist. („Hört! Hört!“ „Sehr richtig!“) Einige Worte über die Kritik von Legien an dem Jenaer Beschluß! Charakteristisch ist sein Appell an die Tradition: Wir seien alle in dem Begriff aufgewachsen, daß der Generalstreik, den er ohne weiteres mit dem Massenstreik identifiziert, Generalunsinn sei. Ja, wir wären schöne Sozialdemokraten, wenn wir es nicht verstanden, uns von Ideen zu emanzipieren, die man als kleines Kind hat. Wir sind doch dazu eine Partei der historischen

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[1] 112 Redaktionelle Überschrift.

[2] Überschrift.

[3] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.

[4] Auf dem fünften Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands vom 22. bis 27. Mai 1905 in Köln war eine Resolution angenommen worden, in der selbst die Diskussion über den politischen Massenstreik als verwerflich bezeichnet wurde.