Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 274

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Die Maifeier vor der Entscheidung

Nach einer Reihe von Versuchen, die Maifeier auf neuer Grundlage, nämlich in Verbindung mit der Unterstützungsfrage, zu regeln, steht die Partei vor einer definitiven Entscheidung. Der Leipziger Parteitag[1] muß nicht nur aus dem Grunde die endgültige Lösung finden, weil die bisherigen Debatten und Experimente auf die Schicksale der Maifeier, wie alle Welt sieht, die fatalste Wirkung ausgeübt haben, sondern auch deshalb, weil der Leipziger Parteitag der letzte vor dem Internationalen Sozialistischen Kongreß in Kopenhagen[2] ist. In Leipzig soll also entschieden werden, welche Haltung die Vertreter der deutschen klassenbewußten Arbeiterschaft vor dem Forum der Internationale in der Maifeierfrage einnehmen: ob sie als Anhänger und Bewahrer der alten Kampftaktik und der Tradition des internationalen Proletariats in dieser Frage auftreten oder ob sie die Initiative zu einer Revision dieser Taktik und zur Preisgabe der Maifeier ergreifen. Wer sich die bisherige Rolle der Maifeier in verschiedenen Ländern vergegenwärtigt sowie die Stimmung, die auf allen internationalen Kongressen in dieser Frage herrschte, dürfte kaum bezweifeln, daß eine Initiative, die in dieser oder jener, direkten oder indirekten Weise auf die Abschaffung der Maifeier abzielen würde, ihrer Niederlage in Kopenhagen so gut wie sicher ist, und mag diese Initiative selbst von einer so mächtigen und einflußreichen Partei wie der deutschen Sozialdemokratie kommen. In Kopenhagen wird es sich also weniger darum handeln, ob die Maifeier in der bisherigen Weise von dem internationalen Proletariat aufrechterhalten werden, als vielmehr darum, welche

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[1] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Leipzig fand vom 12. bis 18. September 1909 statt.

[2] Der Internationale Sozialistenkongreß in Kopenhagen fand vom 28. August bis 3. September 1910 statt.