Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 364

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IV

Andererseits kommt der Protest des Genossen Kautsky im Namen der „Ermattungsstrategie“, die alle ihre Hoffnungen auf die kommenden Reichstagswahlen setzt, reichlich spät. Nicht erst gegen die jetzige Erörterung des Massenstreiks hätte er seinen Mahnruf richten sollen, sondern bereits gegen die Straßendemonstrationen, ja gegen den ganzen Zuschnitt der Wahlrechtsbewegung in Preußen, wie sie durch den preußischen Parteitag[1] im Januar eingeleitet worden ist. Auf diesem Parteitag schon ist der leitende Gesichtspunkt der ganzen Wahlrechtskampagne mit Nachdruck formuliert worden, nämlich, daß die preußische Wahlreform nicht durch parlamentarische Mittel – also weder durch die Tätigkeit innerhalb des Parlaments noch durch noch so glänzende Parlamentswahlen – erreicht werden könne, sondern einzig und allein durch eine scharfe Massenaktion draußen im Lande. „Es gilt, eine Volksbewegung größten Stils auf den Plan zu rufen“, erklärte dort der Referent unter lebhaftem Beifall, „sonst werden die Entrechteten kläglich geäfft und betrogen werden. Und was noch schlimmer ist, wir selbst würden uns die Schuld daran zuzuschreiben haben, daß das Volk so betrogen wird.“[2]

Dem Parteitag lagen bereits fünf Anträge – aus Breslau, Berlin, Spandau-Osthavelland, Frankfurt am Main und Magdeburg – vor, die die Anwendung schärferer Mittel, der Straßendemonstrationen und des Massenstreiks, forderten. Die Resolution, die dann einstimmig Annahme fand, stellt die Anwendung im Wahlrechtskampf „aller zu Gebote stehenden Mittel“ in Aussicht, und der Referent gab ihr folgenden Kommentar in seiner Rede: „Meine Resolution hat ausdrücklich davon Abstand genommen, Straßendemonstrationen oder den politischen Massenstreik zu erwähnen. Aber diese Resolution soll bedeuten – ich wünsche, daß der Parteitag sie auch so auffaßt –, daß wir entschlossen sind, alle uns zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden.“ Wann diese Mittel zur Anwendung kämen, „das hängt immer ab von dem Grade der Entflammung, der durch unsere Aufklärung und Aufrüttelung in den Massen hervorgerufen wird. Wir müssen das Hauptgewicht darauf legen, daß wir vor allem für diese Entflammung der Massen im Wahlrechtskampf zu arbeiten haben.“[3]

Die Demonstrationen, die seit dem preußischen Parteitag einsetzten,

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[1] Der Parteitag der preußischen Sozialdemokratie fand vom 3. bis 5. Januar 1910 in Berlin statt.

[2] Heinrich Ströbel zur Wahlrechtsfrage. In: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Preußens, abgehalten in Berlin vom 3. bis 5. Januar 1910, Berlin 1910, S. 224.

[3] Ebenda, S. 228.