Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 363

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Reichstagswahlrechtes. Dann, meint Genosse Kautsky, werden wir mit allen Mitteln, auch mit dem Massenstreik, vorgehen. Die „Ermattungsstrategie“, die gegen eine größere Massenaktion für heute eifert, ist verknüpft mit einer Spekulation auf den Staatsstreich, der uns erst zu großen Aktionen befähigen soll. Nun hat diese Spekulation auf die Zukunft mit allen derartigen Spekulationen das gemein, daß sie eben – Zukunftsmusik ist. Tritt der Staatsstreich nicht ein, sondern wird das bisherige Fortwursteln im Zickzackkurs fortgesetzt – und Genosse Kautsky muß selbst zugeben, daß dieses Ergebnis der Reichstagswahlen das allerwahrscheinlichste ist –, so fällt auch die ganze Kombination mit der „neuen Situation“ und unseren großen Aktionen in sich zusammen. Suchen wir freilich unsere Taktik nicht auf die Reichstagswahlen und den Staatsstreich zuzuspitzen, wollen wir uns überhaupt nicht auf bestimmte Zukunftskombinationen einrichten, dann kann uns die Frage, ob wir mehr oder weniger Mandate bei den nächsten Wahlen erobern, ob der Staatsstreich dann erfolgt oder nicht, ziemlich kühl lassen. Tun wir nur in jedem Moment in der Gegenwart unsere Pflicht, um in jeder gegebenen Situation das Höchstmaß an Aufrüttelung und Aufklärung der Massen zu leisten und auf der Höhe der Situation und ihrer Anforderungen zu sein, dann werden wir bei jedem weiteren Gange der Ereignisse unsere Rechnung finden. Will man hingegen, wie Genosse Kautsky, eine ganze „Ermattungsstrategie“ für heute mit einer Aussicht auf Großtaten der „Niederwerfungsstrategie“ im nächsten Jahre begründen, wobei diese letztere auch noch erst von einem eventuellen Staatsstreich abhängig ist, dann bekommt unsere „Strategie“ eine leichte Ähnlichkeit mit derjenigen der kleinbürgerlichen Demokraten in Frankreich, die Marx im „Achtzehnten Brumaire“ so genial charakterisiert hat: Über die eigenen Halbheiten und Niederlagen in der Gegenwart pflegten sie sich mit der Hoffnung auf Großtaten bei der nächsten Gelegenheit zu trösten. „Über den 13. Juni aber vertrösteten sie sich mit der tiefen Wendung: Aber wenn man das allgemeine Wahlrecht anzugreifen wagt, aber dann! Dann werden wir zeigen, wer wir sind. Nous verrons.“[1]

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[1] Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 8, Berlin 1969, S. 145.