einer Silbe aber ist die republikanische Losung in unseren beiden leitenden Organen vertreten worden.
Genosse Kautsky ist ein berufenerer Marxkenner als ich, er wird besser wissen, mit welchem punktierten Adjektiv Marx wohl diese „Finte“ belegen würde und diese Art Republikanertum „innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und politisch Unerlaubten“.
Bei alledem befindet sich Genosse Kautsky im Irrtum, wenn er sagt, ich „beklage mich“ über die „schlechte Behandlung“ seitens der Redaktion der „Neuen Zeit“.[1] Ich finde, daß Genosse Kautsky nur sich selbst schlecht behandelt hat.
II
Und nun zum Massenstreik. Um seine unerwartete Stellungnahme gegen die Losung des Massenstreiks in der jüngsten preußischen Wahlrechtskampagne zu erklären, hatte Genosse Kautsky eine ganze Theorie von den zwei Strategien, der „Niederwerfungs-“ und der „Ermattungsstrategie“, geschaffen. Jetzt geht Genosse Kautsky noch weiter und baut ad hoc wieder eine ganz neue Theorie über die Bedingungen des politischen Massenstreiks in Rußland und in Deutschland. Wir hören da zunächst allgemeine Betrachtungen darüber, wie verfänglich geschichtliche Beispiele seien, wie man bei mangelnder Vorsicht aus der Geschichte so ziemlich für alle Strategien, Methoden, Richtungen, Institutionen und Dinge der Welt treffende Belege finden könne – Betrachtungen, die in ihrer Allgemeinheit und Breite eher harmloser Natur sind, deren weniger harmlose Tendenz und Spitze aber dahin formuliert ist, daß es „besonders gefährlich“ sei, „sich auf revolutionäre Vorbilder zu berufen“[2]. Diese Warnungen, die ihrem Geiste nach etwa wie väterliche Ermahnungen des Genossen Frohme anmuten, richten sich namentlich gegen die russische Revolution. Darauf folgt eine Theorie, die uns den völligen Gegensatz zwischen Rußland und Deutschland aufzeigen und dartun soll, daß die Bedingungen für den Massenstreik wohl in Rußland, nicht aber in Deutschland gegeben seien.
In Rußland hätten wir die schwächste Regierung der Welt, in Preußen die stärkste; in Rußland einen unglücklichen Krieg gegen ein kleines asiatisches Land[3], in Deutschland den „Glanz bald eines Jahrhunderts beständiger Siege über die stärksten Großmächte der Welt“[4]; in Rußland
[1] Siehe K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 335.
[2] Ebenda, S. 365.
[3] Von Januar 1904 bis September 1905 hatte Japan einen imperialistischen Krieg gegen Rußland um die Vorherrschaft im Fernen Osten geführt. Die schwere Niederlage der russischen Truppen im Jahre 1905 schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.
[4] K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 368.