Tolstoi als sozialer Denker
Leipzig, 9. September
In dem genialsten Romanschriftsteller der Gegenwart lebte von Anfang an neben dem rastlosen Künstler ein rastloser sozialer Denker. Die Grundfragen des menschlichen Lebens, der Beziehungen der Menschen zueinander, der gesellschaftlichen Verhältnisse beschäftigten seit jeher tief das innerste Wesen Tolstois, und sein ganzes langes Leben und Schaffen war zugleich ein unermüdliches Grübeln über „die Wahrheit“ im Menschenleben. Dasselbe rastlose Suchen nach Wahrheit wird gewöhnlich auch einem anderen berühmten Zeitgenossen Tolstois, Ibsen, nachgesagt. Während aber in den Ibsenschen Dramen der große Ideenkampf der Gegenwart in dem großspurigen, meistens kaum verständlichen Puppenspiel zwerghafter Gestalten grotesken Ausdruck findet, wobei der Künstler Ibsen unter den unzureichenden Anstrengungen des Denkers Ibsen kläglich erliegt, vermag die Denkarbeit Tolstois seinem künstlerischen Genie nichts anzuhaben. In jedem seiner Romane fällt diese Arbeit irgendeiner Person zu, die mitten in dem Getümmel lebenstrotzender Gestalten die etwas linkische, ein wenig lächerliche Rolle eines verträumten Räsoneurs und Wahrheitsuchers spielt, wie Pierre Besuchow in „Krieg und Frieden“, wie Lewin in „Anna Karenina“, wie Fürst Nechljudow in der „Auferstehung“. Diese Personen, die immer die eigenen Gedanken, Zweifel und Probleme Tolstois in Worte kleiden, sind in der Regel künstlerisch am schwächsten, schemenhaftesten gezeichnet, sie sind mehr Beobachter des Lebens als mitwirkende Teilnehmer. Allein die Gestaltungskraft Tolstois ist so gewaltig, daß er selbst nicht imstande ist, die eigenen Werke zu verpfuschen, wie sehr er sie in der Sorglosigkeit eines gottbegnadeten Schöpfers mißhandeln mag. Und als der Denker Tolstoi mit der Zeit über den Künstler den Sieg davongetragen hatte, so geschah es nicht, weil das künstlerische Genie Tolstois versiegte, sondern weil ihm der tiefe Ernst