Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 247

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des Denkers Schweigen gebot. Wenn Tolstoi in dem letzten Jahrzehnt statt herrlicher Romane nunmehr künstlerisch oft trostlose Traktate und Traktätchen über Religion, Kunst, Moral, Ehe, Erziehung, Arbeiterfrage schrieb, so war es, weil er mit seinem Grübeln und Denken zu Ergebnissen gelangt ist, die ihm sein eigenes künstlerisches Schaffen als eine frivole Spielerei erscheinen ließen.

Welches sind nun diese Ergebnisse, welche Ideen verfocht und verficht jetzt noch bis zum letzten Atemzuge der greise Dichter? Kurz gefaßt, ist die Ideenrichtung Tolstois bekannt als eine Abkehr von den bestehenden Verhältnissen mitsamt dem sozialen Kampf in jeglicher Gestalt zu einem „wahren Christentum“. Schon auf den ersten Blick mutet diese geistige Richtung reaktionär an. Gegen den Verdacht freilich, als hätte das von ihm gepredigte Christentum irgend etwas mit dem bestehenden offiziellen Kirchenglauben zu tun, ist Tolstoi schon durch den öffentlichen Bannstrahl geschützt, mit dem ihn die russische orthodoxe Staatskirche getroffen hat. Allein auch eine Opposition gegen das Bestehende schillert in reaktionären Farben, wenn sie sich in mystische Formen kleidet. Doppelt verdächtig erscheint aber ein christlicher Mystizismus, der jeden Kampf und jede Form der Gewaltanwendung verabscheut und die Lehre von der „Nichtvergeltung“ predigt, in einem sozialen und politischen Milieu wie dem des absolutistischen Rußland. Tatsächlich äußerte sich der Einfluß der Tolstoischen Lehren auf die junge russische Intelligenz – ein Einfluß, der übrigens nie weittragend war und sich nur auf kleine Zirkel erstreckte – Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, d. h. in der Periode des Stillstands des revolutionären Kampfes, in der Verbreitung einer indolenten ethisch-individualistischen Strömung, die eine direkte Gefahr für die revolutionäre Bewegung hätte werden können, wäre sie nicht räumlich wie zeitlich bloß eine Episode geblieben. Und endlich unmittelbar vor das geschichtliche Schauspiel der russischen Revolution gestellt, wendet sich Tolstoi offen gegen die Revolution, wie er bereits in seinen Schriften schroff und ausdrücklich gegen den Sozialismus Stellung genommen, speziell die Marxsche Lehre als eine ungeheure Verblendung und Verirrung bekämpft hat.

Gewiß, Tolstoi war und ist kein Sozialdemokrat, und für die Sozialdemokratie, für die moderne Arbeiterbewegung hat er nicht das geringste Verständnis. Allein, es ist ein hoffnungsloses Verfahren, an eine geistige Erscheinung von der Größe und von der Eigenart Tolstois mit dem armseligen steifen Schulmaß herantreten und ihn danach beurteilen zu wollen. Die ablehnende Haltung zum Sozialismus als einer Bewegung und einem

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