Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 256

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Bildung übermitteln. Sein Glaubensbekenntnis hat er in einem, wie Eisner meint, ausgezeichneten Artikel in der „Fränkischen Tagespost“ niedergelegt, worin es heißt: „Wir treiben zuviel Theorie! Muß die Masse die Werttheorie kennen? („Hört! Hört!“) Muß die Masse wissen, was materialistische Geschichtsauffassung ist? Ich wage die Ketzerei und sage: nein! Der Lehrer muß das wissen“ – um es in der Tasche zu behalten. (Eisner: „Nein, das steht nicht da, das haben Sie zugesetzt!“) Natürlich, das habe ich zugesetzt. „Aber für die Massenbildung hat das alles direkt keinen Wert, kann höchstens schaden.“ Das habe ich nicht hinzugefügt, das hat Maurenbrecher gesagt. („Hört! Hört!“) Und weiter sagt er: „Die Theorie ist in ihrer zwar unbeabsichtigten, aber doch sehr häufig vorhandenen Wirkung oft geradezu eine Ertötung der Kraft zum Entschluß und zum Handeln.“ Die materialistische Geschichtsauffassung, die 40 Jahre einer glänzenden Entfaltung des Klassenkampfes in Deutschland und der Welt geschaffen hat, jene Theorie von Marx und Engels, die dem russischen Proletariat vorangeleuchtet hat in der größten Tat des Anfangs des Jahrhunderts, in der russischen Revolution, soll die Kraft zum Entschluß und zum Handeln ertöten! („Hört! Hört!“) Aber Eisner, Maurenbrecher und andere urteilen nach sich selbst, sie glauben, auf sie wirkt die materialistische Geschichtsauffassung, wie sie sie verstehen, in der Weise, daß sie ihre Tatkraft lähmt, und deshalb wünschen sie, daß auf der Parteischule nicht Theorie, sondern hauptsächlich der Stoff gelehrt wird, die stoffliche Seite des Lebens. Sie haben gar keine Ahnung davon, daß das Proletariat den Stoff aus dem täglichen Leben kennt, das Proletariat kennt „den Stoff“ besser als Eisner. (Lebhafte Zustimmung.) Was der Masse not tut, ist die allgemeine Aufklärung, die Theorie, die uns die Möglichkeit gibt, den Stoff zu systematisieren und zu einer tödlichen Waffe gegen die Gegner zu schmieden. (Lebhafte Zustimmung.) Wenn mich irgend etwas überzeugt hat von der Notwendigkeit der Parteischule, der Verbreitung des Verständnisses für die sozialistische Theorie in unseren Reihen, so ist es die Kritik von Eisner. (Lebhafter Beifall.)

II Rede über den Ersten Mai als Kampftag der Arbeiterklasse

[1]

Als der Mannheimer Parteitag[2] die Frage der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften in ihrer ganzen Tragweite aufrollte und nach Mitteln und

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Mannheim fand vom 23. bis 29.9.1906 statt.