Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 191

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Die Lehren der letzten Reichstagswahl. Rede am 6. März 1907 in Berlin in einer Volksversammlung

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Nach einem Zeitungsbericht

Die Stimmung, welche der Ausfall der Reichstagswahl[2] in unseren eigenen Reihen hervorrief, läßt drei Phasen erkennen. Zuerst herrschte Bestürzung, Angst, Depression wegen des unerwarteten Verlustes einer großen Zahl unserer Mandate. Doch diese Stimmung hielt nur kurze Zeit an, dann folgte eine gewisse Befriedigung darüber, daß trotz des Verlustes von Mandaten die Zahl unserer Stimmen gewachsen ist, und es folgte die dritte Phase, in der wir uns jetzt befinden und die auch anzuhalten scheint: die Stimmung der Beruhigung, der Fassung, des Vorsatzes, energisch umzukehren zu positiver Arbeit. Es werden Vorschläge gemacht, die den Ausbau unserer Organisation und Presse, besonders aber die Pflege der Kleinarbeit fordern. Gewiß ist die Kleinarbeit notwendig, aber sie allein genügt nicht.

Es entsteht die Frage, was bedeutet der Wahlausfall nicht nur für uns, sondern für die politische und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands. Als Antwort auf die Frage, wie sich unsere unerwarteten Mandatsverluste erklären, sind einzelne Ursachen angeführt worden, so der durch die Agrarzölle verursachte Umschwung der Stimmung in den Kreisen der Kleinbauern, die früher für uns stimmten, sich aber jetzt gegen uns gewandt haben. Ferner, daß die industrielle Hochkonjunktur die ungünstige Wirkung der Zollpolitik weniger fühlbar gemacht habe, und endlich, daß unsere Gegner einen furchtbaren Druck auf abhängige Schichten der Be‑

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.