Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 398

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unserer Partei in Jena beherrschte. Wenn nun Genosse Kautsky gerade die Rolle des Massenstreiks in der russischen Revolution aus der Rückständigkeit Rußlands ableitet und damit einen Gegensatz zwischen dem revolutionären Rußland und dem parlamentarischen „Westeuropa“ konstruiert, wenn er vor Beispielen und Methoden der Revolution nachdrücklich warnt, ja wenn er andeutungsweise sogar die Niederlage des Proletariats in der russischen Revolution der grandiosen Massenstreikaktion, durch die das Proletariat „schließlich erschöpft werden mußte“, auf das Schuldkonto schreibt – kurz, wenn Genosse Kautsky jetzt klipp und klar erklärt: „Aber wie dem auch sein möge, für deutsche Verhältnisse paßt jedenfalls das Schema des russischen Massenstreiks vor und während der Revolution nicht“[1], dann erscheint offenbar von diesem Standpunkt als eine unbegreifliche Verirrung, wenn die deutsche Sozialdemokratie offiziell gerade von der russischen Revolution als neues Kampfmittel den Massenstreik entlehnte. Die jetzige Theorie des Genossen Kautsky ist im Grunde genommen eine grausam-gründliche Revision des Jenaer Beschlusses.

Um seine einzelne schiefe Stellungnahme in der letzten preußischen Wahlrechtskampagne zu rechtfertigen, gibt so Genosse Kautsky Schritt für Schritt die Lehren der russischen Revolution für das deutsche und westeuropäische Proletariat, die bedeutendste Erweiterung und Bereicherung der proletarischen Taktik im letzten Jahrzehnt preis.

IV

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Im Lichte der Konsequenzen, die sich aus der neuesten Theorie des Genossen Kautsky ergeben, kommt erst deutlich zutage, wie sehr diese Theorie von Grund aus verfehlt ist. Die in der Geschichte der modernen Klassenkämpfe beispiellose Massenstreikaktion des russischen Proletariats

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[1] K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band. S. 374.

[2] Der ebenso unmotivierte wie scharfe Angriff der Redaktion der „Neuen Zeit“ in der letzten Nummer [siehe Rosa Luxemburg: Die Theorie und die Praxis. In: GW, Bd. 2, S. 378, Fußnote *] und ihre Behauptung, daß mein Artikel „im gegenwärtigen Moment der Sache des Proletariats nur schaden könne“, zwingen mich zur folgenden Erwiderung:

1. Ich weise mit aller Entschiedenheit die Behauptung der Redaktion zurück, als handle es sich in der vorliegenden Diskussion um „meine Angelegenheit“, die mir so ungeheuer wichtig“ erscheine. Die Frage des preußischen Wahlrechtskampfes und der in ihm anzuwendenden Taktik ist nicht „meine“ Angelegenheit, sondern die der sozialdemokratischen Bewegung Deutschlands.

2. Die Wahlrechtsfrage steht auf der Tagesordnung des Parteitages in Magdeburg ist auch nach dem Vorfall in Baden von der Tagesordnung nicht abgesetzt worden. Es besteht deshalb für die Parteipresse, in erster Linie für das theoretische Diskussionsorgan der Partei, die einfache Pflicht, die Debatten des Parteitages durch allseitige Klärung der Frage vorzubereiten.

3. Die Anklage, ich entfalte „Streit im eigenen Lager des Marxismus“, ist unbegründet. Der Marxismus ist nicht eine Clique, die es nötig hätte, ernste sachliche Meinungsdifferenzen vor der Welt zu vertuschen. Er ist eine große geistige Bewegung, die wir nicht mit uns paar Leuten identifizieren dürfen, eine Weltanschauung, die im offenen freien Ideenkampf groß geworden ist und nur in ihm sich vor Verknöcherung zu bewahren vermag.

4. Die Erklärung der Redaktion, mein Artikel stelle „sich die Aufgabe, den Parteivorstand, den ‚Vorwärts‘, überhaupt jene Elemente zu diskreditieren“, läuft auf die Behauptung hinaus, daß, wer die leitenden Parteiorgane und die von ihnen befolgte Politik kritisiert, dabei nur die Absicht haben könne, sie zu „diskreditieren“. Das ist wörtlich dasselbe Argument, womit bis jetzt die Gewerkschaftsführer jede Kritik an der Politik der Gewerkschaften, insbesondere auch die Kritik des Redakteurs der „Neuen Zeit“, abzuwehren suchten. Die Redaktion eines theoretischen Diskussionsorgans der Partei sollte die allerletzte sein, die zu kleinlichen Verdächtigungen der Kritiker innerhalb der Partei greift, auch wenn sie sich zufällig selbst unter den Kritisierten befindet.

5. Die mir von der Redaktion aus Rücksicht auf die badische Budgetabstimmung zugemutete Abbrechung der Diskussion über den preußischen Wahlrechtskampf bedeutete, daß wir die Fragen des Kampfes gegen die bürgerlichen Gegner auf unbestimmte Zeit zurückstellen, um uns ausschließlich für den Kampf in den eigenen Reihen zu sammeln. Da die Vorstöße von opportunistischer Seite seit einem Dutzend von Jahren gar nicht aufhören, so hieße es die Partei einfach unter Belagerungszustand durch den Opportunismus erklären, wollte man alle ernsten Debatten über die Taktik, alle Probleme der Weiterentwicklung der sozialdemokratischen Kampfweise jedesmal an den Nagel hängen, wean es unseren Revisionisten beliebt, einen neuen Streich zu spielen. Ein so aufgeregtes Getue widerspricht auch den eigenen Worten der Redaktion an einer anderen Stelle. Die badische Angelegenheit muß mit Energie und Konsequenz erledigt werden. „Allein“, lesen wir im Leitartikel des Genossen Mehring in derselben Nummer der „Neuen Zeit“, „die Partei wird sich ihre frohe Kampfstimmung nicht durch diese Episode trüben lassen. Soweit sich bisher die Parteipresse darüber geäußert hat, ist es mit derselben überlegenen Ruhe geschehen, womit Engels die Krähwinkeleien des ‚Kanton Badisch‘ zu betrachten pflegte.“[Franz Mehring: Kanton Badisch. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 562.] Ich wünsche der Redaktion der „Neuen Zeit“ etwas von dieser „frohen Kampfstimmung“ und dieser „überlegenen Ruhe“. Rosa Luxemburg

Mit jener „überlegenen Ruhe“, die Genossin Luxemburg von uns fordert, drucken wir neben den dreißig Seiten ihres Artikels auch noch diese Erklärung ab und überlassen ruhig unseren Lesern das Urteil darüber, ob eine Polemik von der Art der vorliegenden im jetzigen Moment am Platze ist und ob das heftige Sträuben der Genossin Luxemburg gegen jede Zurückschiebung ihrer Antwort um einige wenige Wochen nicht eine Überschätzung der Wichtigkeit ihrer eigenen Ausführungen bedeutet. Die Red. [Fußnote im Original]