Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 407

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daß in Deutschland heute Massenstreiks und Demonstrationsstreiks unmöglich sind, die in verschiedenen anderen Ländern möglich waren, heißt dem deutschen Proletariat ein Armutszeugnis ausstellen, das es noch durch nichts verdient hat.

V

Was bleibt eigentlich von der Massenstreiktheorie des Genossen Kautsky übrig, nachdem er alle die „Unmöglichkeiten“ nachgewiesen hat? Der eine „letzte“, rein politische Massenstreik, der nur ein einziges Mal, losgelöst von ökonomischen Streiks, aber ganz zum Schluß wie ein Donner aus heiterem Himmel einschlägt. „Hier, in dieser Auffassung“, sagt Genosse Kautsky, „liegt der tiefste Grund der Differenzen fiber den Massenstreik, die zwischen meinen Freunden und mir bestehen. Sie erwarten eine Periode der Massenstreiks, ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einen politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen [Hervorhebung – R. L.], in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod, als einen Kampf, der unsere Gegner niederringt oder die Gesamtheit unserer Organisationen und unsere ganze Macht für Jahre hinaus zerschmettert oder mindestens lähmt.“[1]

Zu diesem Bilde des „letzten Massenstreiks“, wie es dem Genossen Kautsky vorschwebt, ist nun vor allem zu sagen, daß es jedenfalls eine ganz neue Schöpfung ist, die nicht nach der Wirklichkeit, sondern aus reiner „Vorstellung“ gezeichnet ist. Denn es paßt nicht nur zu keinem russischen Vorbild; auch nicht ein Massenstreik unter den vielen, die in „Westeuropa“ oder den Vereinigten Staaten stattgefunden haben, ähnelt annähernd dem vom Genossen Kautsky für Deutschland erfundenen Exemplar. Keiner von den bisher bekannten Massenstreiks war ein „letzter“ Kampf „auf Leben und Tod“, keiner hat zum völligen Siege der Arbeiter geführt, keiner aber auch „die Gesamtheit der Organisationen“ und „die ganze Macht“ des Proletariats „auf Jahre hinaus zerschmettert“. Der Erfolg war meist nur ein teilweiser und ein mittelbarer. Die Riesenstreiks der Bergarbeiter endeten gewöhnlich unmittelbar mit einer Niederlage, im weiteren Gefolge hatten sie aber wichtige soziale Reformen durch ihren Druck erzielt: in Österreich den Neunstundentag, in Frankreich den Achtstundentag. Der belgische Massenstreik im Jahre 1893[2] hat als hochwich‑

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[1] Ebenda, S. 374.

[2] Im April 1893 war es in Belgien zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung zu einem politischen Generalstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen, an dem sich etwa 250 000 Arbeiter beteiligten. Als Ergebnis dieses Streiks mußte das belgische Wahlrecht wesentlich erweitert werden.