Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 408

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tiges Ergebnis die Eroberung des allgemeinen, ungleichen Wahlrechts gehabt. Der schwedische Massenstreik des vorigen Jahres[1] hat formal mit einem Kompromiß abgeschlossen, im Grunde genommen eine Generalattacke des koalierten Unternehmertums auf die schwedischen Gewerkschaften abgewehrt. Die österreichischen Demonstrationsstreiks[2] haben die Wahlreform mächtig gefördert. Die Massenstreiks der Landarbeiter haben, bei ihrer formalen teilweisen Ergebnislosigkeit, die Organisation unter den Landarbeitern in Italien und Galizien gestärkt. Alle Massenstreiks, ob ökonomische oder politische, demonstrative oder Kampfstreiks, haben das gehalten, was die Genossin Oda Olberg so treffend in ihrer Bilanz des italienischen Eisenbahnerstreiks seinerzeit in der „Neuen Zeit“ schrieb: „Die Errungenschaften des politischen Streiks sind nicht einzuschätzen: je nach dem Grade des proletarischen Klassenbewußtseins wechselt ihr Wert. Ein mit Kraft und Solidarität durchgeführter politischer Streik ist immer unverloren, weil er das ist, was er bezweckt, eine Machtentfaltung des Proletariats, bei der die Kämpfenden ihre Kraft und ihr Verantwortungsgefühl stählen und die herrschenden Klassen der Stärke der Gegner bewußt werden.“[3]

Hat aber bis jetzt noch jeder Massenstreik ohne Ausnahme, in „Westeuropa“ wie in Rußland, im strikten Gegensatz zum neuesten Schema des Genossen Kautsky weder völligen Sieg noch die Zerschmetterung des Proletariats gebracht, sondern umgekehrt fast immer eine Stärkung der Organisationen, des Klassenbewußtseins und des Machtgefühls der Arbeiter, so entsteht auf der anderen Seite die Frage: Wie kann in Deutschland jener große und „letzte“, jener apokalyptische Massenstreik, bei dem die stärksten Eichen krachen, die Erde berstet und die Gräber sich öffnen, überhaupt zustande kommen, wenn die Masse des Proletariats nicht vorher durch eine ganze lange Periode von Massenstreiks, von ökonomischen oder politischen Massenkämpfen dazu vorbereitet, geschult, aufgerüttelt wird? In diesen „letzten“ Massenstreik soll sich ja nach dem Genossen Kautsky „das ganze Proletariat des Reichs“ und noch dazu „mit seiner ganzen Macht“ stürzen. Wie sollen aber plötzlich die preußisch-deutschen Staatsarbeiter, die Eisenbahner, Postbeamten usw., die heute im „Kadavergehorsam“ erstarrt sind, die Landarbeiter, die kein Koalitionsrecht und keine Organisation haben, die breiten Schichten der Arbeiter, die noch in gegnerischen Organisationen, in christlichen, in Hirsch-Dunckerschen, gel‑

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[1] Vom 4. August bis 6. September 1909 war auf Beschluß der Landeszentrale der Gewerkschaften in Schweden von allen ihr angeschlossenen Organisationen ein allgemeiner Ausstand durchgeführt worden, an dem sich 75 Prozent der in Industrie, Handwerk und Verkehr beschäftigten Arbeiter beteiligten. Mit diesem Streik war der Versuch der Unternehmerverbände abgewehrt worden, durch Aussperrungen während der Wirtschaftskrise die Zustimmung der Gewerkschaften zu Lohnreduzierungen zu erzwingen.

[2] Von Oktober bis Dezember 1905 fanden in Österreich-Ungarn auf Beschluß der Sozialdemokratischen Partei Österreichs Massenstreiks und Massendemonstrationen für das allgemeine Wahlrecht statt.

[3] Oda Olberg: Nachträgliches zum Eisenbahnerstreik. In: Neue Zeit, XXIII, 2, S. 385. [Fußnote im Original]