Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 409

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ben Gewerkschaften stecken, kurz, die ganze große Masse des deutschen Proletariats, die bis jetzt weder unserer gewerkschaftlichen Organisation noch der sozialdemokratischen Agitation zugänglich war, mit einem Sprunge für einen „letzten“ Massenstreik „auf Leben und Tod“ reif sein, wenn sie nicht durch eine vorhergehende Periode stürmischer Massenkämpfe, Demonstrationsstreiks, partieller Massenstreiks, wirtschaftlicher Riesenkämpfe usw. nach und nach aus ihrer Starrheit, ihrem Kadavergehorsam, ihrer Zersplitterung losgelöst und der Gefolgschaft der Sozialdemokratie angegliedert wird?

Das muß wohl auch Genosse Kautsky einsehen. „Natürlich“, sagt er, „stelle ich mir dies einmalige Ereignis nicht als einen ‚aus der Pistole geschossenen‘ isolierten Akt vor. Auch ich erwarte eine Ära erbitterter Massenkämpfe und Massenaktionen, aber den Massenstreik als die letzte Waffe.“[1] Allein, welche „Massenkämpfe und Massenaktionen“ hat denn Genosse Kautsky im Sinne, die jenem „letzten“ Massenstreik vorausgehen und die selbst nicht aus Massenstreik bestehen sollen? Sollen es Straßendemonstrationen sein? Aber man kann nicht jahrzehntelang bloße Straßendemonstrationen machen. Und allgemeine, eindrucksvolle Demonstrationsstreiks sollen ja nach dem Genossen Kautsky in Deutschland eben ausgeschlossen sein; es sei ja „gar nicht daran zu denken, daß bei uns in einem Demonstrationsstreik gegen die Regierung Stadtbahnen, Straßenbahnen, Gaswerke zum Stillstand kommen“. Wirtschaftliche Massenstreiks können gleichfalls jene Vorbereitungsarbeit für den politischen Massenstreik nicht verrichten, sie sind ja nach dem Genossen Kautsky vom politischen Massenstreik streng fernzuhalten, sie seien ihm gar nicht förderlich, sondern geradezu schädlich. Worin sollen also schließlich jene „erbitterten“ Massenkämpfe und Massenaktionen der Vorbereitungsära bestehen? Etwa in „erbitterten“ Reichstagswahlen oder in Versammlungen mit Protestresolutionen? Aber jene gewaltigen Schichten des nichtorganisierten oder gegnerisch organisierten Proletariats, auf die es beim „letzten“ Massenstreik ankommt, bleiben ja leider unseren Versammlungen fern. Und so ist es schlechterdings nicht abzusehen, wie wir eigentlich das „ganze Proletariat des Reiches“ für den letzten Kampf „auf Leben und Tod“ gewinnen, aufrütteln und schulen werden. Ob Genosse Kautsky es will oder nicht, sein letzter Massenstreik kommt eben, da er eine Periode von Massenstreiks wirtschaftlichen und politischen Charakters ausschließt, einfach aus der Pistole geschossen.

Schließlich muß man sich aber fragen: Was ist das eigentlich für ein

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[1] K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 374.