Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 410

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„letzter“ Massenstreik, der nur einmal kommt und in dem das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht auf Leben und Tod ringt? Soll darunter ein periodischer „letzter“ Massenstreik verstanden sein, der in jeder großen politischen Kampagne, also etwa um das preußische Wahlrecht, um das Reichstagswahlrecht, zur Verhinderung eines verbrecherischen Krieges usw., zum Schluß die Entscheidung gibt? Aber man kann nicht periodisch und mehrmals „auf Leben und Tod“ kämpfen. Ein so ausgemalter Massenstreik, in dem „das ganze Proletariat“ und obendrein „mit ganzer Macht“ „auf Leben und Tod“ ringt, kann nur jener Kampf sein, wo es sich um die ganze politische Macht im Staate handelt, das kann offenbar nur jener „letzte“ Kampf auf „Leben und Tod“ sein, in dem das Proletariat um seine Diktatur ringt, um dem bürgerlichen Klassenstaat den Garaus zu machen. Der politische Massenstreik für Deutschland verschiebt sich auf diese Weise immer weiter; erst wurde er durch die „Ermattungsstrategie“ nach den Reichstagswahlen im nächsten Jahr erwartet, jetzt entschwindet er als der „letzte“, der einzige Massenstreik unseren Blicken und neckt uns gar aus bläulicher Ferne der – sozialen Revolution.

Erinnern wir uns jetzt noch an die Bedingungen, die Genosse Kautsky in seinem ersten Artikel „Was nun?“ an die Ausführung des politischen Massenstreiks knüpfte: die strengste Geheimhaltung der Vorbereitungen vor dem Feinde, Beschlußfassung durch den obersten „Kriegsrat“ der Partei, möglichste Überrumpelung der Gegner – und wir bekommen unversehens ein Gedankenbild, das eine starke Ähnlichkeit mit dem „letzten, großen Tag“, dem Generalstreik nach anarchistischem Rezept hat. Die Idee des Massenstreiks verwandelt sich aus einem geschichtlichen Prozeß der modernen proletarischen Klassenkämpfe in ihrer jahrzehntelangen Schlußperiode in einen Kladderadatsch, in dem das „ganze Proletariat des Reichs“ plötzlich mit einem Ruck der bürgerlichen Gesellschaftsordnung den Garaus macht.

Wie schrieb doch Genosse Kautsky 1907 in seiner „Sozialen Revolution“, 2. Auflage, Seite 54:

„Das ist unsinnig. Ein Generalstreik in dem Sinne, daß alle Arbeiter eines Landes auf ein gegebenes Zeichen die Arbeit niederlegen, setzt eine Einmütigkeit und eine Organisation der Arbeiter voraus, die in der heutigen Gesellschaft kaum je erreicht werden kann, und die, wenn einmal erreicht, so unwiderstehlich wäre, daß sie des Generalstreiks nicht erst bedürfte. Ein solcher Streik würde aber mit einem Ruck nicht bloß die bestehende Gesellschaft, sondern überhaupt jede Existenz unmöglich

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