Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 279

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Der politische Führer der deutschen Arbeiterklasse

Die Sozialdemokratie erkennt als bewußte Anhängerin und geistiges Kind der materialistischen Geschichtsauffassung keinen Heroenkultus in der Geschichte an. Auch nicht in bezug auf sich selbst als ein Stück der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft im allgemeinen. Die Sozialdemokratie ist einerseits das Produkt der objektiven Entwicklung im Schoße des modernen Klassenstaates, die deutsche Sozialdemokratie speziell das Produkt der mächtigen großindustriellen wie der großstaatlich-weltpolitischen Entwicklung Deutschlands. Andererseits ist dieSozialdemokratie das Produkt der bewußten Einwirkung des werktätigen Idealismus Unzähliger und Ungenannter, vieler Generationen von Männern und Frauen, ist sie das Produkt der Massenaktion. Ohne diese Unzähligen, Ungenannten, ohne das bewußte Werk der Masse könnten die genialsten Führer die Sozialdemokratie nicht zu dem gestalten, was sie ist: eine Macht ersten Ranges im öffentlichen Leben der modernen Gesellschaft.

Aber auch innerhalb dieses Rahmens ist der Führerrolle in der Sozialdemokratie durch den besonderen Charakter dieser Partei von vornherein historisch ein bestimmter Inhalt, sind ihr dadurch auch bestimmte Schranken gegeben. Die bürgerlichen Parteien sind durch ihre ureigensten Interessen dazu verurteilt, ihre Ziele, ihre Politik im weiteren Sinne gegen die Interessen der Masse des Volkes durchzusetzen. Da aber der Anhang der Masse bis zu einem gewissen Grade für die Existenz und die Wirkungsfähigkeit jeder bürgerlichen Partei unentbehrlich ist, so ergibt sich daraus ein Doppeltes. Die bürgerlichen Parteiführer sind um so mächtiger und einflußreicher, ihre Aktionen um so kühner, großzügiger und wirksamer, je mehr die Führer sich selbst und je mehr sie die hinter ihnen

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