Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 280

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einhergehenden Massen über den wahren Charakter ihrer Ziele, über die historischen Schranken ihrer Aufgaben zu täuschen imstande sind. Ihre größten Führer haben die bürgerlichen Klassen in der Großen Französischen Revolution gestellt, in jenem ersten Klassenkampf, dessen geschichtliche Konsequenzen durch einen in Regenbogenfarben schillernden Nebel ideologischer Illusionen verhüllt waren. Je mehr die Selbsttäuschung und die Täuschung der Masse durch den Fortgang der Dinge unmöglich werden, um so mehr verfallen die bürgerlichen Parteien und sinkt das Niveau ihrer Führer. Man vergleiche mit den Riesen der großen Revolution die Pygmäen der 1848er Revolution, und mit diesen wieder die Helden in Taschenformat des bürgerlichen Katzenjammers in der russischen Revolution oder die heutigen Führer der bürgerlichen Parteien in Deutschland wie in sämtlichen westeuropäischen Ländern.

Die Sozialdemokratie ist nichts anderes als die Verkörperung des vom Bewußtsein über seine historischen Konsequenzen getragenen Klassenkampfes des modernen Proletariats. Ihr eigentlicher Führer ist in Wirklichkeit die Masse selbst, und zwar dies dialektisch in ihrem Entwicklungsprozeß aufgefaßt. Je mehr sich die Sozialdemokratie entwickelt, wächst, erstarkt, um so mehr nimmt die aufgeklärte Arbeitermasse mit jedem Tage ihre Schicksale, die Leitung ihrer Gesamtbewegung, die Bestimmung ihrer Richtlinien in die eigene Hand. Und wie die Sozialdemokratie im ganzen nur die bewußte Vorhut der proletarischen Klassenbewegung ist, die nach den Worten des Kommunistischen Manifestes in jedem Einzelmoment des Kampfes die dauernden Interessen der Befreiung und jedem partiellen Gruppeninteresse der Arbeiterschaft gegenüber die Interessen der Gesamtbewegung vertritt, so sind innerhalb der Sozialdemokratie ihre Führer um so mächtiger, um so einflußreicher, je klarer und bewußter sie sich selbst nur zum Sprachrohr des Willens und Strebens der aufgeklärten kämpfenden Massen, nur zu Trägern der objektiven Gesetze der Klassenbewegung machen.

Die deutsche Sozialdemokratie hat in ihrem Werdegange viele imposante Charaktere, talentvolle Köpfe an ihrer Spitze gesehen. Sie hat keinen gehabt, der die Vorbedingungen eines Führers der modernen proletarischen Klassenbewegung, wie sie durch die objektiven Bedingungen dieser Bewegung gegeben sind, in so hohem Maße und in so glücklicher Mischung besessen hätte wie August Bebel.

Vor allem ist die geistige Lebensgeschichte Bebels mit der Entwicklungsgeschichte der deutschen Sozialdemokratie identisch. Weder hat sich Bebel als geistig Fertiger der Klassenpartei des Proletariats angeschlossen,

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