Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 281

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noch war die Sozialdemokratie ein reifes Parteigebilde, als er in ihre Reihen trat. Bebel hat den ganzen Werdegang der Partei seit den sechziger Jahren mitgemacht, er rang sich von bürgerlich-demokratischer zur proletarisch-revolutionären Auffassung zusammen mit der Vorhut der deutschen Arbeiterklasse durch, er hatte alle inneren und äußeren Kämpfe und Krisen der jungen Parteibewegung mitgemacht. In ihren anfänglichen Fraktionskämpfen zwischen den Lassalleanern und Eisenachern stand er in erster Reihe. In der Ära des Bismarckschen Sozialistengesetzes hat er all ihre Leiden und Opfer ausgekostet, so wie er in dem darauffolgenden Siegeslauf der Bewegung ihr Bannerträger war. Das organisatorische Wachstum der Partei von den ersten schwachen Anfängen bis zur jetzigen Macht und Größe ist jedesmal unter seiner tätigen und bestimmenden Mitwirkung vor sich gegangen. Die parlamentarische Aktion der Sozialdemokratie entfaltete sich von den ersten tastenden Schritten im Norddeutschen Reichstag[1] bis zu den letzten Jahren unter Bebels maßgebender Führung, so wie auch die ersten gewerkschaftlichen Organisationen der Eisenacher Ende der sechziger Jahre unter seinem Einfluß und nach seinem Plane ins Leben gerufen wurden. Und endlich in allen geistigen Krisen, in allen Ideenkämpfen der Bewegung stand Bebel stets im Brennpunkt des Parteilebens, er wuchs geistig und reifte zusammen mit der Partei: Ein Stück der deutschen Sozialdemokratie, ist er in gleichem Maße ihr Produkt und ihr Schöpfer.

Deshalb ist auch, abgesehen von den persönlichen glänzenden Eigenschaften seines Geistes und seines Charakters, das eigentliche Geheimnis der Größe Bebels und seines Lebens das nämliche, wodurch die heutige Größe der deutschen Sozialdemokratie zu erklären ist. Und wie alles wirklich Große sind beide äußerst einfach zu erklären. Das Verständnis sowohl für die Wichtigkeit und Notwendigkeit des unermüdlichen praktischen Tageskampfes um alles im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung für das Proletariat Erreichbare, eines Kampfes, ohne den die sozialdemokratische Bewegung zu einer in der Luft schwebenden Sektenbewegung werden muß, wie das Verständnis für die Wichtigkeit und Notwendigkeit der revolutionär-prinzipiellen Richtschnur für alles Tun und Lassen der Partei, wie sie nur durch eine konsequente wissenschaftlich-theoretische Basis geschaffen werden kann und ohne welche die proletari-

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[1] Am 12. Februar 1867 war August Bebel als erster revolutionärer Arbeiterpolitiker in den Norddeutschen Reichstag gewählt worden. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde am 16. April 1867 angenommen und sah die Wahl des Reichstags nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht bei geheimer Stimmabgabe vor.