Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 519

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kein Oberbürgermeister von Stuttgart denkbar. Aber damit ist nur noch deutlicher bewiesen, daß dieses Amt kein Posten für einen Sozialdemokraten ist.

„Rein äußerliche Formalitäten“, „leere Zeremonien“ – mit diesen Phrasen werden leichter Hand die republikanischen Traditionen der Sozialdemokratie beiseite geschoben. Es gibt selbst bürgerliche Parteien, die aus Opposition zur herrschenden Regierung die geringste Konzession an eine Loyalitätszeremonie verschmähen. Es ist zu bedauern, daß es Kreise in der Sozialdemokratie gibt, die nicht so viel Stolz in den Knochen haben wie z. B. die irischen Nationalisten, die – keine Republikaner, wie wir – es schroff zurückwiesen, an der Trauerfeier nach dem Tode des englischen Königs irgendeinen Anteil zu nehmen, mit der offiziellen Begründung, daß die Könige Englands auch die verstorbenen Führer der irischen Freiheitskämpfer nicht ehrten. Es handelte sich tatsächlich um eine bloße Zeremonie, aber die Iren verstanden, daß im politischen Leben auch Formalitäten ihre Bedeutung haben. In England ist die ganze Monarchie mehr oder weniger eine Formalität. In Deutschland jedoch handelt es sich nicht um Formalitäten, sondern um faustdicke Realitäten des Klassenkampfes, und die sogenannten „praktischen Politiker“ sind auch hier – wie immer – in ihrer eingebildeten Überlegenheit letzten Endes nur die Düpierten unsrer Gegner.

II

Leipzig, 29. Mai

Man hat es dem „Hamburger Echo“ sehr übel vermerkt, daß es von der Möglichkeit sprach, der Genosse Oberbürgermeister in Stuttgart würde vielleicht „mit gekrümmtem Rücken und entblößtem Haupt" am Empfange des deutschen Kaisers teilnehmen müssen.[1] Auch unseren Ausdruck von den „sozialdemokratischen Lakaienbücklingen in höfischen Vorzimmern“ hat die „Schwäbische Tagwacht“ mit edler Entrüstung als „Besudelung“ des Dr. Lindemann zurückgewiesen. Wir sprachen in der „Leipziger Volkszeitung“ ganz allgemein von monarchischen Kundgebungen[2], wie sie leider in der letzten Zeit hier und da von einzelnen in der Partei vorgenommen worden sind. Schiebt jedoch die „Schwäbische Tagwacht“ selbst den Dr. Lindemann und seinen Mannesstolz vor Königsthronen auf den Plan, so hat sich jedenfalls Dr. Lindemann selbst und eigenhändig

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[1] Der Stuttgarter Stadtschultheiß. In: Hamburger Echo, Nr. 112 vom 14. Mai 1911.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Gefährliche Neuerungen. In: GW, Bd. 2, S. 505–508; dies: Der Disziplinbruch als Methode. In: ebenda, S. 509–514.