Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 518

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sätze zur höchsten Entfaltung, und das Idyll eines kommunalen Krähwinkels verwandelt sich in die Brutalität des modernen Klassenkampfs in seiner ganzen Nacktheit. Dies ist so wahr, daß selbst in dem republikanischen Frankreich der Zentralmaire – Oberbürgermeister – der Stadt Paris sich in den Präfekten des Seine-Departements, d. h. in einen Regierungsbeamten sans phrase, verwandelt. Im monarchischen Deutschland kommt dies natürlich noch deutlicher zum Ausdruck. Die württembergische Gemeindeordnung selbst verleiht dem Ortsvorsteher einer Großstadt eine andre Stellung als den sonstigen Schultheißen. Der Titel selbst des Oberbürgermeisters beruht nur auf einer königlichen Verleihung, ist also eine Art monarchische Livree. Während bei Versagung der Bestätigung an kleinere Ortsvorsteher die Begründung angegeben wird und im Beschwerdeweg angefochten werden kann, bedarf die Nichtbestätigung des Oberbürgermeisters durch den König keiner Begründung, und eine Beschwerde gegen sie ist ausgeschlossen. Weit entfernt, leere Formalitäten zu sein, bringen diese Bestimmungen vielmehr zum Ausdruck, daß der Oberbürgermeister von vornherein nicht bloß als Kommunalbeamter, sondern auch als Staatsbeamter einer königlichen Regierung gedacht ist. Auch gewinnt die Verwaltung der Polizei und die Sorge für die „Aufrechterhaltung der Ordnung“ in einem Mittelpunkt des politischen Lebens ganz andre Bedeutung als in einer Dorfgemeinde. Es kommt dabei z. B. nach der württembergischen Gemeindeordnung das schöne Gesetz vom 28. August 1899, „betreffend das Verfahren bei Aufgebot der bewaffneten Macht gegen Zusammenrottungen“ usw in Betracht, und man kann sich denken, in welche Situationen ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister bei stürmischen Streiks in der Art Moabits[1] oder, um im „liberalen“ Süddeutschland zu bleiben, Mannheim-Ludwigshafens[2] oder Pforzheims[3] im Falle großer Massendemonstrationen geraten mag.

Ferner kommen aber der famose „Verkehr mit der Krone“ sowie die „Repräsentationspflichten“ in Betracht, für die sich der Stuttgarter Kandidat von vornherein von der Parteidisziplin befreien ließ. Man muß dem Dr. Lindemann zugestehen, daß die Konsequenz ganz auf seiner Seite ist: Ohne Verkehr mit der Krone und ohne monarchische Repräsentation ist

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[1] Zwischen dem 19. September und 8. Oktober 1910 kam es zu den Moabiter Unruhen, die durch einen Lohnstreik von 140 Kohlenarbeitern und Kutschern der Firma Kupfer & Co. in Berlin-Moabit ausgelöst worden waren. Nach dem Einsatz von bewaffneten Streikbrechern und Polizeitruppen weitete sich der Kampf zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und der Staatsgewalt aus, an der etwa 20 000 bis 30 000 Menschen beteiligt waren. Der Streik wurde gegen den Willen vieler Arbeiter vom Transportarbeiterverband abgebrochen. Bis Mitte Oktober fanden in vielen Orten Deutschlands Protestversammlungen gegen die Polizeiüberfälle in Moabit und gegen die hohen Gefängnisstrafen für einige verurteilte Arbeiter statt.

[2] Anfang April 1911 waren in Mannheim etwa 2000 Hafen- und Transportarbeiter für höhere Löhne in den Ausstand getreten.

[3] Im September 1910 hatte in der Pforzheimer Edelmetallindustrie ein Lohnkampf begonnen, bei dem Anfang Dezember 25 000 Arbeiter ausgesperrt worden waren. Um die bedingungslose Wiederaufnahme der Arbeit zu erzwingen, forderten die Unternehmer den Einsatz von Polizei. Der Streik wurde um die Jahreswende ergebnislos abgebrochen.